Leseprobe: Alle sterben auch die Löffelstöre

Rechte by Arche-Verlag Zürich/Hamburg

1.Kapitel

Liebe Skarlet, das ist sozusagen ein Briefaus dem Jenseits, aber Du bist eine der ganz wenigen, denen ich zutraue, mit der makaberen Situation umzugehen.

Sie saß in der S-Bahn und dachte, daß sie jetzt weinen müsste. Sie starrte aus dem Fenster und sah, was sie immer sah, wenn sie in dieser Gegend abends aus dem Fenster schaute. Nichts. Aber auch bei Tageslicht wäre es nicht anders gewesen. Ein deprimierendes Bild. Stillgelegte Industrieanlagen, das ehemalige Kraftwerk dessen Schornsteine einst als Wunder der Baukunst galten und für dessen Abrisskosten jetzt von der Stadtverwaltung Sponsoren gesucht wurden. Daneben die ehemalige Großdruckerei, dann das Kugellagerwerk, Bürogebäude, darin nicht eine einzige Fensterscheibe, die man noch einwerfen konnte. Das Gelände vor den zugemauerte Eingängen war mit Büschen und meterhohen Bäumen bewachsen, und verrottete Bauzäune sperrten ab, was niemanden mehr interessierte. In dieser Gegend lag die Stadt im Koma. Sie starrte aus dem Fenster, suchte vergeblich nach Lichtern, versuchte, die Sterne am Himmel zu erkennen, doch das Neonlicht blendete, und die Deckenlampen spiegelten sich im Glas.

Meine größte Angst ist, daß alles wirklich so banal ist, wie sie es uns immer gesagt haben.

Sie sah in die spiegelnde Fensterscheibe und versuchte, sich vorzustellen, wo er jetzt sein könnte. Aber auch ihre Phantasie war in diesen Dingen begrenzt und folgte nur den vorgegebenen Mustern, die sich zwischen atheistisch oder religiös entschieden, zwischen Erde und Himmel. Und obwohl sie in einem sozialistischen Land aufgewachsen war, kam ihr als einzig möglicher Ort, wo Paul jetzt sein könnte, das Paradies in den Sinn. Aber wo war das überhaupt? Sie fand, daß es für ein Paradies im Himmel momentan zu kalt war. Das Jahr verabschiedete sich mit Frost, es wehte ein eisiger Wind, und die Temperaturen waren so niedrig, daß kein Schnee fallen konnte. Sie sehnte sich nach diesem Schnee, nach der Stille, die alles zudeckte, die kaputten Industrieanlagen, die schmutzigen Straßen, die Gefühle. In ihrer Erinnerung hatte es in ihrer Kindheit jeden Winter von Dezember bis März geschneit. Noch nie vorher war ihr der Gedanke gekommen, daß es im Paradies auch kalt sein könnte. Sie hatte es sich immer mit Temperaturen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Grad und einer erträglichen Luftfeuchtigkeit vorgestellt . Ein Teneriffa für alle. Doch je länger sie darüber nachdachte, um so fragwürdiger wurde ihr das Ganze. Sie sah eine riesige Ferienanlage vor sich, in der alle Platz finden mußten, die sich auf Erden ausreichend gut benommen hatten und am Ende würde sie jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen müssen, um ihr Handtuch auf eine Liege am Pool zu legen. Der Gedanke, das Paradies mit Unbekannten teilen zu müssen, war unerträglich, aber genauso absurd war die Vorstellung mit Menschen auf Ewigkeit zusammenzusein, mit denen sie schon auf Erden nichts zu tun haben wollte. Sie stellte sich vor, daß sie gemeinsam mit ihrem Nachbarn, der jeden Sonntagmorgen die Zählerstände im Keller kontrollierte und in ein Buch eintrug und der nichts so sehr liebte, wie im Wohnmobil durch Norwegen zu fahren, in ein und das selbe Paradies käme. Womöglich würde er ihr nachts heimlich die Heizung abdrehen. Vieles erschien ihr auf den ersten Blick unklar: in welcher Sprache sollten sich alle verständigen? Gab es für jede Nation ein eigenes Paradies? Oder waren die Paradiese nach Berufsgruppen getrennt? Und wo würde sie Janis Joplin und Jimi Hendrix finden?

Schon als Kind war sie ständig gescheitert, weil sie versucht hatte, sich alles konkret vorzustellen. Am schlimmsten war der Gedanke an die Unendlichkeit gewesen. Der Gedanke an die Unendlichkeit hatte sie krank gemacht. Jeder Teller hatte einen Rand, jedes Fußballfeld eine Torlinie. Alles hörte irgendwo auf, das Zimmer, die Straße. Jedes Meer hatte ein Ufer und selbst Ozeane stießen irgendwann an Land. Es war schon schwer genug gewesen, sich damit abzufinden, dass die Erde eine Kugel war. Und dann sollte das Weltall auch noch unendlich sein? Keine Wand, keine Tür? Aber selbst wenn irgendwo eine Wand wäre, so gab es immer ein davor und ein dahinter, hinter jeder Tür war eine andere Tür. Und wo war in dieser ganzen Unendlichkeit Gott? Sie hatte den Pfarrer in der Christenlehre danach gefragt und seine Erklärungen, dass Gott überall wäre, nicht gelten lassen. Gott konnte nicht gleichzeitig ein Alpenveilchen und der Pudel von Frau Schindler sein. Sie hielt die Formulierung: Gott ist in uns, für eine der Lügen der Erwachsenen, die wie immer zu bequem waren, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Sie sah den Pfarrer bei der Frage, ob Gott beim Betreten der Wohnung Hausschuhe anziehen müsse, zusammenzucken. Wer kochte für Gott, wer wusch seine Wäsche? Und wann hatte Gott eigentlich Geburtstag? Statt ihr zu antworten schrieb der Pfarrer einen Brief an ihre Eltern, die, nach dem sie die Fragen auch nicht beantworten konnten, mit ihr einen Arzt konsultierten, der zuerst einen Herzfehler vermutete, ihr aber dann nur eine ungewöhnlich große Fantasie bescheinigte und den Eltern riet, sie von aller Aufregung und vor allem vor der Kirche fernzuhalten, was für einen Arzt aus einer Poliklinik immer ein guter Rat war. Endlich hatte sie mehr Zeit, um sich ihren Aufgaben als Junger Pionier zu widmen. Bei den Jungen Pionieren war alles viel konkreter. Zwar gab es genau wie in der Kirche zehn Gebote, die jeder einhalten sollte. Aber die Heiligen waren richtig tot und geisterten nicht als virtuelle Erscheinung durchs tägliche Leben. Im Sinne von Ernst Thälmann hieß, wir machen es so, wie es Ernst Thälmann gemacht hätte, wenn er nicht feige und hinterhältig ermordet worden wäre. Zwar sah er ihnen aus seinem Bilderrahmen heraus von der Wand über den Garderobehaken zu, aber er war weder ein Alpenveilchen, noch ein Pudel, sondern höchsten einmal im Jahr eine Mainelke.

Heute stellte sie sich Gott vor, wie eine Datei im Internet, ein Link, der bei allem was man suchte vorhanden war. Noch immer hielt sie den Brief aus dem Jenseits, von dem weder Paul noch sie wussten, wo es war, in der Hand. Und wie immer hatte sie den Umschlag mit einem Finger aufgerissen, das Papier achtlos zerfetzt, wer interessierte sich schon für leere Umschläge, aber vielleicht hätte sie für einen letzten, für einen allerletzten Brief versuchen können, vorsichtig die Gummierung zu lösen oder wenigstens für das Aufschlitzen einen Stift oder Schlüssel nehmen sollen. Sie versteckte den Umschlag zwischen den Briefseiten und fixierte prüfenden den Himmel, den sie durch die Scheibe nicht sehen konnte.

Paul war immer ordentlich gewesen. Die Bleistifte auf seinem Schreibtisch hatten exakt neben einander gelegen und nie hatte es eine abgebrochene Spitze gegeben. Nie war er auch nur eine Minute unpünktlich gewesen und nie hatte er eine einzige Entscheidung rückgängig gemacht. War gewesen. Wie leicht sich das dachte und dabei war er noch nicht einmal sieben Stunden tot.

Am Nachmittag war der Anruf gekommen. Sie hatte in der Küche gestanden und gekocht. Spaghetti wie immer und Musik gehört, wie immer. Nannini wie fast immer. Und während Io e Bobby McGee hatte das Telefon geklingelt und sie war eher unwillig auf den Flur gegangen und hatte den Hörer abgenommen. Es gab nichts schlimmeres als weichgekochte Spaghetti. Ho smesso di soffrire e finalmente in pace può morire, hatte Nannini in der Küche gebrüllt und Judith hatte am Telefon: Paul ist eben gestorben, gesagt. Und sie war in die Küche gegangen und hatte die Musik ausgestellt. Dann war es still, in den Boxen und am anderen Ende der Leitung.

Soll ich kommen?

Lass dir Zeit.

Und sie war zurückgegangen zum Herd und hatte die Spaghetti mit dem Holzlöffel umgerührt und dann die Zeituhr auf acht Minuten gestellt. Dann hatte sie kochendes Wasser über die Tomaten gegossen, exakt bis zum Rand der Schüssel. Um diese Jahreszeit waren die Tomate teuer und hatten kaum Geschmack und die Schale ließ sich schwer, und nur mit Hilfe eines Messers lösen. Und sie dachte, dass es besser gewesen wäre, wenn sie sich für geschälte Tomaten aus der Dose entschieden hätte. Sie hatte einen Schwapp Olivenöl in den Tiegel gegeben, gewartet, bis das Öl Blasen schlug und dann vorsichtig die geschnittenen Tomaten vom Teller in das heiße Öl geschoben. Sie war bei dem Zischen zusammengezuckt. Alle Geräusche erschienen ihr unendlich laut. Aber sie fürchtete sich vor jeder Art Musik. Sie hatte am Küchentisch gesessen, inmitten der ungewohnten Stille, und Spaghetti gegessen.