Leseprobe: Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen

Rechte by Arche-Verlag Zürich/Hamburg

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Mein neunter Geburtstag begann wie alle meine Geburtstage in den vorangegangenen Jahren. Noch im Halbdunkel versammelten sich meine Eltern und Tante Elvira vor meinem Bett: „Weil heute dein Geburtstag ist…“ – Man achtet auf seine Körperhaltung beim Singen!
Gemeinsam führten sie mich zum Wohnzimmertisch, ich durfte die Kerzen, rings um meinen Kuchen, auspusten – Um Himmelswillen nicht das Lebenslicht! — und danach meine Geschenke bewundern. Das waren ein Paar Halbschuhe für den Herbst, die mir wie gewöhnlich etwas zu groß waren, noch Jahre später war ich dazu verdammt, vorsorglich ein bis zwei Nummern zu groß gekaufte Schuhe zu tragen: Mein Gott wie das Kind wieder läuft, zwei Strumpfhosen, eine Packung Buntstifte, ein Malheft und von Tante Elvira eine Tischdecke für Später.
Später war, wenn ich einmal heiraten und Kinder bekommen würde, so hatten es meine Eltern festgelegt, und Tante Elvira bereitete mich mit ihren Geschenken darauf vor. Zu jedem Geburtstag schenkte sie mir eine weiße Tischdecke aus Damast und zu jedem Weihnachtsfest Bettwäsche, zwei Kopfkissen, zwei Bezüge, zwei Laken. Später wirst du mir noch dankbar sein dafür.
Sie schöpfte scheinbar endlos aus der Tiefe ihres immer verschlossenen Kleiderschrankes und trug so nach und nach ihren ganzen Besitz in mein Zimmer. Irgendwann würde mir sowieso alles gehören, wenn sie, diesen Satz begleitete sie immer mit einem Seufzer, von dieser Welt gehen müsse. Dann würde ich auch das silberne Besteck mit den verschnörkelten Griffen und die drei kleinen Porzellanhunde bekommen, die neben dem Bild von Onkel Hans auf Tante Elviras Nachtischschränkchen standen und auf die ich auch zu diesem Geburtstag vergebens gehofft hatte. Die Wäsche, das Besteck, die Hunde, mehr war ihr nicht geblieben von Damals.
Über damals wurde wenig gesprochen bei uns. Nur manchmal, wenn Tante Elvira Wein getrunken hatte, woher die Alter nur immer das Zeug hat, begann sie Lieder von damals zu singen. Dann straffte sich ihr Oberkörper, sie zog die Schultern nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und die Hände nebeneinander auf den Tisch. Ihre Augen suchten einen mir unbekannten Punkt im Tapetenmuster. Anfangs sang sie leise, mit viel zu hoher Stimme, doch nach und nach verschwand das Zittern, sie wurde lauter und begann, den Takt mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen. Ihr Gesang wurde schneller, immer schneller, bis ihr die Luft ausging, und sie nur noch mit der Hand auf den Tisch schlagen konnte. Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen. Es war, als wollte sie das Holz mit der bloßen Hand spalten. Spätestens dann kam mein Vater in das Zimmer gerannt, um die erschöpfte Tante hinauszuführen, wobei er flüsternd mit ihr schimpfte: Wenn du doch wenigstens Weihnachtslieder singen würdest.
Ich verstand nicht, weshalb Tante Elvira nicht mehr singen sollte. Uns ist singen ein Bedürfnis, sagte unsere Heimatkundelehrerin Frau Hartmann und gab den ersten Takt vor: Die Heimat hat sich schön gemacht.
Ich durfte zur Feier des Tages neben dem Lehrertisch stehen. Nach dem Lied sprach meine Lehrerin von einem denkwürdigen Datum und von einem besonderen Tag. Allerdings war es nicht meine Geburt, die vor neun Jahren für Schlagzeilen gesorgt hatte, sondern eine kleine silberne Kugel. Während Frau Hartmann sprach, schüttelte sie mir ununterbrochen die Hand, und als besondere Überraschung durfte ich mir ein Lied wünschen. Wenn ich groß bin flieg ich zu den Sternen. Ich stand vor der Klasse, spürte die Hand meiner Lehrerin auf der Schulter, sah aus dem Fenster in den blauen Oktoberhimmel, sah in die sich öffnenden Münder meiner Klassenkameraden und spürte meine heiße Gesichtshaut. Alle sangen, weil ich heute Geburtstag hatte, ich und der berühmte erste Sputnik. So nannte ihn meine Heimatkundelehrerin. Sie nutzte die Gelegenheit, uns von der Hündin Laika zu erzählen, von Juri Gagarin und von Walentina Tereschkowa, der ersten Frau im Weltall. Sie ahnte nicht, welche Folgen diese Stunde für mich haben würde.

Seit Beginn des zweiten Schuljahres mußte ich an jedem Mittwochnachmittag zehn Minuten vor um fünf unsere Wohnung verlassen. Der Weg führte von der Hauptstraße, an der Kohlenhandlung vorbei in die Waldstraße, dann weiter auf der linken Straßenseite in Richtung Stadtpark. Am Ende der Straße stand ein großes, helles Gebäude. Schon von weitem konnte ich die Ãœberschriften in den Schaukästen erkennen, die Werbung für den Zeichenzirkel, die Arbeitsgemeinschaft „Junge Köche“, den Bastelklub. Doch ich erreichte das Pionierhaus nie. Spätestens an der alten Pumpe mußte ich über die Straße gehen, hinüber zu dem Haus mit den buntleuchtenden Fenstern und dem Kreuz an der Giebelwand. Ich hatte mir die Füße abzutreten und mich gegen die schwere Eichentür zu stemmen. Hinter der Tür wartete Frau Goldhuhn auf mich. Wann immer ich eintrat, stand sie an diesem Fleck, um mir mit ihren großen, weichen Händen über den Kopf zu streichen. Ich hatte das Gefühl, daß meine Haare von dem wöchentlichen Darüberstreichen allmählich dünner wurden. Ich dachte an die Glatze meines Vaters und daran, wie oft er wohl durch diese Tür gegangen sein mußte.
Und natürlich war er es gewesen, der mich das erste Mal zu Frau Goldhuhn gebracht hatte. Es war Mittwoch im September. Schweigend liefen wir nebeneinander, und ich mußte ihn an der Hand fassen. Je näher wir dem Pionierhaus kamen, umso stärker wurde der Druck seiner Hand, der mich von den Schaukästen weg, auf die andere Straßenseite zog. Ich verstand meinen Vater nicht. Bereits vor meinem Beitritt in die Pionierorganisation hatten sich meine Eltern gestritten. Ich fand diesen Streit merkwürdig, denn weder mein Vater, noch meine Mutter sollten Pionier werden, sondern ich, und ich hatte mich längst entschieden. Ich wollte auch einmal, so wie ich es an meinem ersten Schultag gesehen hatte, neben dem Fahnenmast stehen, heißt Flagge, und die blaue Fahne mit dem Flammenzeichen nach oben ziehen dürfen. Ich wollte, wie die anderen, einen richtigen Ausweis haben, mit einem Bild von mir auf der ersten Seite. Letztendlich kamen meine Eltern überein, daß ich das blaue Halstuch tragen durfte, ich sollte keine Schwierigkeiten bekommen: Wir wollen doch nur dein Bestes.
Nun aber zog mich mein Vater auf die andere Straßenseite, aus meiner Familie seien alle hierher gegangen und es habe keinem geschadet: Aus uns sind alles anständige Menschen geworden. Und nun war die Reihe an mir, ein anständiger Mensch zu werden. Ich wurde durch die geöffnete Tür zwischen die Hände von Frau Goldhuhn geschoben, die mich unter ihre große Brust drückte und mein Schäfchen nannte. Ihr Name, den ich mir schon auf dem Hinweg einprägen mußte, damit ich „Guten Tag Frau Goldhuhn“ sagen konnte, man sieht die Leute an beim Gutentagsagen; versprach etwas Außergewöhnliches. Ich hatte sie mir im engen glitzernden Kleid vorgestellt, mit einem Büschel goldener Federn auf dem Kopf. Sie würde ein Lächeln haben, wie die Frauen aus den Filmprogrammen, die meine Mutter sammelte. Als ich sie endlich sah, war ich enttäuscht über ihren weiten Pullover, die Hornbrille mit den dicken Gläsern. Nur ein Kreuz glitzerte kaum sichtbar an ihrem Hals.
Frau Goldhuhn betonte immer wieder, wie sehr sie sich freue, daß auch ich hierher gefunden habe, und ich sagte ihr, daß es nicht schwierig gewesen wäre, denn mein Vater hätte mich ja gebracht. Sie lachte mit tiefer Stimme.
Von nun an sollte mich dieses Lachen begleiten. Ein Jahr lang ging ich an jedem Mittwochnachmittag in das Gemeindehaus. Wir waren insgesamt zwölf Kinder und hatten nichts weiter zu tun, als uns die Geschichten anzuhören, die uns Frau Goldhuhn erzählte, und dazu Kekse zu essen, die nach Vanille schmeckten. Ich mochte das große, dunkle Haus, die Kerzen auf den Tischen, die gedämpfte Stimme von Frau Goldhuhn, die Geschichten von dem Jungen Jesus, der in der Weihnachtsnacht geboren wurde, alle Menschen liebte, mit jedem sein Brot teilte und überhaupt der beste Mensch war, den sich Frau Goldhuhn vorstellen konnte.
Zu Hause konnte ich die Geschichten in dem bunten Buch nachlesen, das Frau Goldhuhn jedem von uns geschenkt hatte. Neues Testament stand mit großen Buchstaben auf dem Einband. Ich kannte das Wort Testament aus den Unterhaltungen meiner Eltern, die oft davon sprachen, daß Tante Elvira nun bald ihr Testament machen werde. Ich fragte Frau Goldhuhn nach Tante Elvira. Wieder lachte sie ihr tiefes Lachen, aber es schien mir, als beachtete sie mich von diesem Moment an weniger als die anderen Kinder. Nur zum Abschied sah sie mir in die Augen, bis ich rot wurde, und noch auf dem Heimweg spürte ich den Druck ihrer Hand auf meinem Kopf.
Auch an den nächsten Nachmittagen nutzte sie die Gelegenheit, mich zu kritisieren. Immer fand sie in den Geschichten, die ich nacherzählte, einen Fehler, nie gefielen ihr meine Bilder, die ich zu Hause gemalt hatte. Auch ließ sie mich öfter als die anderen die zehn Gebote aufsagen: Du sollst nicht.
Sie nahm es mit einem gleichbleibenden Lächeln hin, daß ich die Versionen meines Vaters hinzufügte: Du sollst deinen Teller ordentlich abessen, du sollst still sein, wenn sich Erwachsene unterhalten. Mit einem Mal spürte ich den Drang, ihr und ihrem Lieben Gott weh zu tun. Trotzdem faltete ich meine Hände: Ich bin klein, mein Herz ist rein. „Und die Goldhuhn ist ein Schwein“, murmelte der blonde Jakob neben mir und ich beneidete ihn um seinen Mut. Schon längst hatte ich aufgehört, an das Beten zu glauben. Jesus hatte mir weder meine verlorenen Turnschuhe zurückgebracht, noch meinen Füllhalter repariert. Und vor allem schenkte er mir kein Fahrrad, obwohl ich ihn jeden Abend darum bat. Und überhaupt, wo war Er eigentlich, der alles, was ich tat, beobachtete? Wenn das der liebe Gott sieht! Der darauf wartete, mich bei etwas Verbotenem zu erwischen, um es danach meiner Mutter heimlich ins Ohr zu flüstern. Warum interessierte er sich für meine weggeworfenen Frühstücksbrote und herausgerissenen Heftseiten? Wie kam es, daß er mir nie den Rücken zudrehte? Wo wohnte Jesus? Wo wohnte Gott?
Fragte ich meinen Vater danach, strich er mir über den Kopf, immer, wenn ich auf dieses Thema zu sprechen kam, wurde mir über den Kopf gestrichen, und er sagte mit feierlicher Stimme: Gott wohnt in uns. Aber wie konnte Gott gleichzeitig in meinem Vater, meiner Mutter und in mir wohnen? Heimlich nahm ich den Brockhaus aus dem Bücherschrank meines Vaters, suchte nach dem nackten Mann und der nackten Frau, klappte die Papphaut beiseite, nirgendwo war Gott. Da war mir die Variante meiner Mutter schon einleuchtender. Langsam hob sie den Kopf, ließ ihren Blick über die Tapete streifen und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf unsere Deckenlampe: Vater, der du bist im Himmel.
Oft stand ich abends am Fenster und suchte den Himmel nach irgendeinem Zeichen ab. Wie konnte Gott mich sehen, wenn ich ihn nicht sah? Ich erwog, seine Aufmerksamkeit auf die Probe zu stellen, und beschloß, nachdem er mich wieder einmal bei meiner Mutter verpetzt hatte, ihm die Zunge herauszustrecken. Bereits auf dem Weg zum Fenster wurde ich unsicher. Was konnte Gott für meinen defekten Füllhalter und die Tintenflecke auf dem Teppich? War er es, der mir eine Ohrfeige gegeben hatte? Mein Mund wurde trocken, und die Zunge klebte am Gaumen. Vorsichtig verließ ich meinen Platz am Fenster, verzichtete auf Blitz und Donner und auf die Gelegenheit, Gott endlich einmal zu Gesicht zu bekommen. Am meisten beunruhigte mich, daß ich nicht einmal genau wußte, wie Gott aussah, denn nirgendwo war ein Bild von ihm zu finden. Meine Vorstellungen pendelten zwischen einem großen, dünnen Mann mit hagerem Gesicht und streng blickenden Augen, und einer etwas freundlicheren Version: dick, glatzköpfig, mit abstehenden Ohren. Keiner konnte mir auf meine Fragen eine Antwort geben, und so blieb wieder einmal nur Frau Goldhuhn übrig. Erwartungsvoll hatte ich sie angesehen und auf ihr Lachen gewartet, vergebens.

Es kam mein neunter Geburtstag, ein, wie ich von meiner Heimatkundelehrerin erfuhr, besonderer Tag. Als ich nach Hause kam war bereits der Kaffeetisch gedeckt. Es gab Streuselkuchen und Kakao. Mein Vater war extra wegen mir eher nach Hause gekommen, und ich hoffte, daß mir wenigsten an meinem Geburtstag der Weg in das Gemeindehaus erspart beiben würde. Aber als ich nach dem Tisch abräumen das Menschärgeredichnicht-Spiel holen wollte, traf mich der erstaunte Blick meines Vaters. „Ist heute nicht Mittwoch?“ Mein Bitten blieb ohne Erfolg: Du sollst deinen Eltern nicht immer widersprechen.
Und so saß ich dann an nach dem Kaffetrinken in meinem Zimmer und sah meine Aufgaben noch einmal durch. Wir sollten Petrus malen, der vor dem Palast der Hohenpriester auf Jesus wartete. Petrus, den meine Eltern für das Wetter verantwortlich machten, stand zwischen dem Volk und verleugnete Gott. Ich hatte ihn unter der Last seiner Schuld: Du darfst nicht falsch Zeugnis geben – wer seine Eltern belügt, dem wächst die Hand aus dem Grab, den Kopf beugen lassen. Auf einen Stock gestützt, starrte er vor sich hin. Ich hatte mich bei der Blattaufteilung verschätzt. Zwischen dem krummen Petrus und dem leicht bewölkten Himmel klaffte ein breiter weißer Streifen. Ich überlegte, wie ich dieses Nichts ausfüllen könnte, dachte daran, es regnen zu lassen, Petrus mit seinen eigenen Mittel zu strafen. Doch das erschien mir zu einfach. Auch die Sonne konnte ich in Anbetracht von Petrus Schuld nicht scheinen lassen. Aber wem hätte der Platz über den Köpfen der Menschen zugestanden? Von Engeln hielt ich nicht viel. Ich fand es schrecklich, den ganzen Tag auf einer Wolke zu sitzen, artig zu sein und Lieder singen zu müssen. Ich erschrak, wenn mich mein Vater mein kleines Englein nannte, und betrachtete ängstlich meine spitzen Schulterblätter im Flurspiegel. Den lieben Gott durfte ich nicht malen, so gern ich es auch gewollt hätte: Du sollst dir kein Bildnis machen.
Es blieb ein weißer Streifen auf meinem Blatt. Zu meiner Erleichterung fielen mir die Heimatkundestunde vom Morgen und die Zeitungsbilder ein, die uns meine Lehrerin gezeigt hatte. Ich spitzte meinen Bleistift.
Frau Goldhuhn rang nach Luft. Immer wieder tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf mein Heft, als wolle sie ein Loch in meinen Sputnik bohren: Du sollst keinen Götzen haben neben Gott.
Sie nannte mich ungläubig, unbelehrbar, nicht würdig, länger in diesem Haus zu weilen. Keiner verteidigte mich, Jakob nicht und auch Peter nicht, der mir erst in der letzten Woche auf dem Heimweg verraten hatte, daß er nur noch wegen der Kekse in die Christenlehre komme. Gemeinsam mit den anderen lachten sie mich aus. Wütend schlug ich mein Heft zu, nahm meinen Anorak vom Haken und verließ das Gemeindehaus. Auf der Straße brannten schon die Laternen. Würde ich jetzt nach Hause gehen, wäre mein ganzer Geburtstag verdorben, mein Vater würde meine Geschenke wieder in seinen Bücherschrank schließen, es gäbe keine Wiener Würstchen zum Abendbrot und vor dem Schlafengehen keine Gutenachtgeschichte. Aber wenn ich es wollte, konnte ich die Strafe verschieben, um eine Woche vielleicht, oder um zwei. Ich brauchte nur vor dem Gemeindehaus auf das Ende der Bibelstunde zu warten, um dann, als sei nichts geschehen, mit den anderen nach Hause zu gehen.
Es war kalt. Ich lief vor dem Gemeindehaus auf und ab, sah zu den buntleuchtenden Scheiben, und obwohl ich nicht hindurchsehen konnte, wußte ich, daß sie jetzt alle über die flackernden Flammen der Kerze hinweg zu Frau Goldhuhn sahen, die mit tiefer Stimme ihre Geschichten vorlas und nicht bemerkte, wie sich Peter und Jakob Kekse für den Heimweg in die Hosentasche steckten.
Ich zwang mich, nicht mehr zu dem Fenster zu sehen, versuchte aus Rache gegen Frau Goldhuhn, mir Gott vorzustellen. Ich ließ ihn im Himmel an seinem Schreibtisch sitzen, die Tagesausgaben notieren und anschließend die Konsummarken einkleben. Jedesmal, bevor Gott eine Seite umblätterte, leckte er über seinen Daumen und sah einen kurzen Moment aus dem Fenster, vielleicht, um zu prüfen, ob die Sterne noch an ihrem Platz und alle Engel an ihrer Arbeit waren. Ich nutzte die Gelegenheit und ließ meinen Sputnik dicht über die Schreibtischplatte hinwegfliegen und freute mich über die durch die Luft wirbelnden Konsummarken.
In dem schwächer werdenden Licht hinter den Scheiben sah ich, daß die Kerzen fast heruntergebrannt waren. Jetzt würden sich alle um den Tisch herum an den Händen fassen und gemeinsam ein Gebet sprechen: VaterunserderdubistimHimmel. Ich fror und hoffte darauf, daß sich die Tür bald öffnen würde und ich endlich nach Hause gehen konnte. Aber es blieb weiterhin still, nur auf der gegenüberliegenden Straßenseite summten die Neonröhren in den Schaukästen. Was machte es jetzt noch, wenn ich hinüber ging, bestrafen würde mich mein Vater wegen der versäumten Bibelstunde sowieso.
Zögernd betrat ich die Fahrbahn, die mir mit einem Mal ungewöhnlich breit erschien. Ich lief über das bucklige Kopfsteinpflaster, fühlte bei jedem Schritt den ich tat, ein Kribbeln im Bauch, spürte meine Beine nicht mehr. Es war ein leichtes Schweben, ein Gefühl, wie wenn ich am Heiligen Abend auf die Tür des Weihnachtszimmers zuging. Vor den Schaukästen blieb ich stehen. Welcher Pionier möchte Kosmonaut werden? stand in großen Buchstaben über einer Reihe bunter Bilder. Ich erkannte Juri Gagarin, Walentina Tereschkowa, auch meinen Sputnik fand ich wieder. Juri und Walentina lächelten mir zu, und ich lächelte zurück.
Jetzt wußte ich, wie ich es allen beweisen würde, Frau Goldhuhn, dem blonden Jakob, dem feigen Peter, meinen Eltern. Ich würde Kosmonaut werden, durch das Weltall fliegen und selbst sehen, wo Gott wohnt. Nur ich würde wissen, wie er in Wirklichkeit aussah, und keiner würde mir verbieten können, Gott zu malen. Jeden Mittwoch 16 -18 Uhr Kosmonautentest stand unter den Bildern. Ich sah mich im glänzenden Raumanzug auf einer Gangway stehen und kurz die Hand zum Abschied heben. Ich sah meine Eltern zurückwinken, auch meine Heimatkundelehrerin schwenkte ihr Taschentuch.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite her hörte ich Stimmen. Ich rannte, und es gelang mir gerade noch rechtzeitig, mich hinter der Pumpe zu verstecken. Die Gemeindehaustür wurde geöffnet, aus dem Halbdunkel heraus trat eine Gestalt. An der Silhouette erkannte ich Frau Goldhuhn. Ich sah zu, wie sie jedem Kind zum Abschied die Hand auf den Kopf legte. Ich sah Peter und Jakob erst langsam, dann immer schneller davongehen, schließlich zu rennen beginnen und ausgelassen mit den Armen schwenken. Ich sah sie an der Ecke Halt machen, die Kekse aus den Hosentaschen ziehen und mit beiden Händen in den Mund stopfen. Ich stand hinter der Pumpe, gegen das kalte Metall gedrückt, und starrte auf Frau Goldhuhn, die noch unbeweglich auf der Schwelle stand und den Kindern hinterher schaute, die sie in der Dunkelheit längst nicht mehr erkennen konnte. Ich wartete eine unendlich lange Zeit, wagte kaum zu atmen und war erleichtert, als Frau Goldhuhn endlich die Tür schloß. Wenn ich pünktlich zu Hause sein wollte, mußte ich mich beeilen. Vorsichtig verließ ich mein Versteck und rannte, den notwendigen Abstand haltend, um nicht gesehen zu werden, hinter den anderen Kindern her. Den Test würde ich erst in der nächsten Woche machen können.
Es war eine lange Woche. Unter der Aufsicht meiner Mutter packte ich am Mittwochnachmittag das Malheft und die Bibel in meine Tasche, wiederholte die Grüße an Frau Goldhuhn und versprach, ohne rot zu werden, mich ordentlich zu benehmen.
Ich rannte den ganzen Weg, blieb erst an der Pumpe stehen und sah mich um. Ich war allein. Behutsam zog ich das blaue Halstuch aus meiner Anoraktasche. So oft ich in den letzten Tagen allein gewesen war, hatte ich vor dem Spiegel den Knoten geübt. Hastig schlang ich die Zipfel übereinander, drückte den Knoten fest gegen den Hals und schob den Reißverschluß wieder nach oben. Keiner sollte mich sehen, Jakob nicht und Peter nicht, sie würden mich bei Frau Goldhuhn verpetzen, da war ich mir sicher. Niemand durfte etwas von meinem Vorhaben erfahren. Ich wollte sie überraschen, wenn sie eines Tages die Zeitung aufschlagen und mein Gesicht sehen würden. Dann sollte es ihnen leid tun, daß sie über mich gelacht hatten.
Doch zuerst mußte ich den Test bestehen. Je näher ich dem Pionierhaus kam, um so größer wurde meine Aufregung. Während der ganzen Woche hatte ich mir vorzustellen versucht, worin der Test bestehen könnte. Ich hatte es geschafft, zehn Minuten lang auf dem Kopf zu stehen, sechsundzwanzigmal vom Wohnzimmertisch zu springen und trotz angedrohtem Stubenarrest, einen Tag lang nichts zu essen. Heute endlich würde ich das Geheimnis des Tests erfahren. Ich drückte auf die Klinke, wie von selbst öffnete sich die zweiflüglige Tür. Ich stand inmitten einer hohen Halle, über mir schwebte ein riesiger Kristalleuchter. Ich starrte auf die funkelnden Glasblättchen und hatte dabei das Gefühl, als würde der Leuchter langsam näherkommen. Erschrocken trat ich beiseite, meine Schritte hallten durch den Raum. Vor mir lag eine breite Steintreppe, auf der ein dunkelroter Teppich den Weg nach oben wies. Vorsichtig berührte ich das kalte Marmorgeländer. Noch hatte ich Zeit umzukehren. Ich konnte mich bei Frau Goldhuhn entschuldigen und Gott mit zehn Vaterunser um Verzeihung bitten, ich brauchte nicht länger allein in einem fremden Haus zu stehen. Mir war, als hörte ich hinter meinem Rücken das Lachen von Peter und Jakob. Was hätten Juri und Walentina jetzt an meiner Stelle getan? Ich durfte nicht länger zögern. Entschlossen, zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg ich die Treppe nach oben. Am Ende der Treppe stand ein Junge in Pionierkleidung und sah aus dem Fenster. Ich stellte mich neben ihn, wartete, öffnete meinen Anorak, damit der Junge mein Halstuch sehen konnte. Nach einer Weile drehte sich der Junge um und sah mich mißtrauisch an. Jetzt mußte ich zum ersten Mal den Satz sagen, ich durfte nicht stottern, mir nicht anmerken lassen, daß ich aufgeregt war. Alles hing von den vier Worten ab: Ich möchte Kosmonaut werden!
Der Junge schüttelte den Kopf. „Nur ganze Klassen und mit Voranmeldung.“
Ich verstand nicht, was er damit meinte. Warum mußte meine ganze Klasse mitkommen, wenn ich Kosmonaut werden wollte? Sollten wir gemeinsam in das Weltall fliegen? Ich dachte an Gerlinde Träger, der es nicht einmal mit Hilfestellung gelang, über den Bock zu springen, und die mir sicher alles verderben würde. Oder sollten nur die Besten aus meiner Klasse herausgesucht werden? An Konkurrenz hatte ich bisher überhaupt nicht gedacht. Gab es schon so viele Bewerber, daß ich meine Prüfung nur nach Voranmeldung ablegen konnte?
„Und Weiber nehmen die sowieso nicht!“ Der Junge drehte sich wieder zum Fenster.
Nichts durfte ich, mich nicht prügeln, nicht Fußballspielen, nicht rülpsen. Immer hieß es: So etwas macht ein Mädchen nicht. Und nun sollte ich nicht einmal Kosmonaut werden dürfen? „Und Walentina?“ schrie ich den Jungen an.
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Bei den Russen ist alles anders.“
Um uns herum wurde es plötzlich laut. Eine Schulklasse kam die Treppe heraufgerannt. Ohne auf den Jungen zu achten, drängelte ich mich zwischen die fremden Kinder. Ich lief mit ihnen über Korridore und Treppen, und ich wäre mit ihnen in die Hölle gelaufen, vor der uns Frau Goldhuhn wöchentlich gewarnt hatte, wenn sie nicht vor einer Tür stehengeblieben wären. Wir mußten in einer Reihe antreten. Erst, als wir ruhig waren, drückte der Pionier jedem von uns einen Zettel in die Hand: das Testprotokoll. Ich hatte es geschafft.
Er erklärte uns, daß wir zehn Stationen durchlaufen müßten und an jeder Station Punkte bekommen würden. Die Höchstpunktzahl drei gab es nur für völlig richtige Antworten. Wir sollten nicht drängeln, vorsagen oder schwatzen und uns die Antworten gut überlegen. Nur wer dreißig Punkte erreichte, sei für die Kosmonautenausbildung besonders geeignet.
Schweigend betraten wir den Testraum. Wir standen vor zehn Tischen, die über den ganzen Raum verteilt waren, an denen hinter großen Pappschildern mit der jeweiligen Stationsnummer, Pioniere saßen, die nur ein wenig älter waren als wir. Ich kannte die meisten Jungen aus meiner Schule, oft hatten sie mich während der Hofpause angerempelt, wenn sie trotz der Ermahnungen der Lehrer Hasche oder Fußball spielten. Aber jetzt saßen sie ordentlich auf ihren Stühlen und hielten sich auffällig gerade. In diesem Moment erschienen sie mir Jahre älter als ich. Ich sah in ihre ernsten Gesichter, und ich wußte, daß es ein schwerer Test werden würde.
Ich mußte mit der Station Nummer drei beginnen. Es war ein Wissenstest. Welches Tier flog als erstes in das Weltall?A: Die Katze Morle, B: Die Hündin Laika, C: Der Wellensittich Putzi.
Wie hieß der erste Kosmonaut mit Vornamen?
Wann startete der erste Sputnik?
Fast hätte ich mir einen Punkt verdorben, weil ich auf die letzte Frage mit „an meinem Geburtstag“ geantwortet hatte und erst als ich das abweisende Gesicht des Pioniers sah, schnell noch das Datum hinzufügte. Mit dem Hinweis, daß ich mir zukünftig meine Antworten besser überlegen sollte, im Raumschiff könnte schon ein einziges falsches Wort katastrophale Folgen haben, gab er mir dennoch drei Punkte. Kosmonauten sind klug, stand auf dem Schild unter der Stationsnummer. An der Nachbarstation mußte ich meinen Namen und meine Adresse mit verbundenen Augen auf ein Blatt Papier schreiben, Kosmonauten verlieren nie die Orientierung, und an einer weiteren Station die Grenze der Sowjetunion mit meinem Zeigefinger auf dem Globus nachzeichnen und mir den Grenzverlauf einprägen, damit ich die Sowjetunion später vom Raumschiff aus wiedererkennen würde.
Ich kam zur Station Nummer fünf. Diese Station lag im hintersten, schlecht beleuchteten Teil des Raumes. Neben dem Stationstisch stand ein großer, schwarzer Kasten mit einer silbernen Spitze. Der verantwortliche Pionier öffnete eine schmale Tür, schob mich wortlos in den Kasten und schloß die Tür hinter mir fest zu. Es war so eng, daß ich mich kaum bewegen konnte. Ich erinnerte mich an Versteckspiele, die bergende und gleichsam furchterregende Dunkelheit im Kleiderschrank, an die Stunden der Angst, die ich nachts allein in meinem Bett verbracht hatte. Aber hier konnte ich niemanden bitten, die Tür auch nur einen Spaltbreit zu öffnen, hier gab es kein rettendes Korridorlicht, ich durfte mir meine Furcht nicht anmerken lassen. Ich wollte Kosmonaut werden, nur daran durfte ich denken.
Man muß etwas haben, woran man glauben kann, war einer von Tante Elviras Grundsätzen, und auch wenn ich die Tante nicht immer mochte, wünschte ich sie jetzt zu mir in die Dunkelheit. Wenn ich doch wenigstens nicht allein gewesen wäre. Ich bemerkte über mir ein Geräusch, ein leises Summen, durch meinen Anorak hindurch spürte ich das Vibrieren der Wände. Das Summen ging in ein schrilles Pfeifen über, das Vibrieren wurde stärker. Der enge Raum, die schmale Tür, eine Luke fast, die silberne Spitze auf einem schwarzen Kasten? Sollte ich womöglich sofort losfliegen? Vor meinen Augen zuckten Lichter auf: blaue Quadrate, rote Punkte, gelbe Dreiecke. Waren das schon die Startvorbereitungen? Warum hatte ich keinen Raumanzug bekommen? Um mich herum begann sich alles zu drehen. Ich spürte einen ungewohnten Druck in meinen Ohren. Vielleicht wäre es besser, wenn ich mir wenigstens die Anorakkapuze über den Kopf ziehen würde? Ich versuchte, nach der Kapuze zu greifen, aber die Rakete war so eng, daß es mir nicht gelang, die Ellenbogen anzuwinkeln, so sehr ich mich auch mühte. Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken. Mir wurde übel. Ich hatte mich weder von meinen Eltern, noch von meiner Heimatkundelehrerin verabschieden können. Keiner wußte etwas von meinem Raumflug. Allein stand ich in einer engen, dunklen Rakete, und es gab niemanden, der mir helfen konnte. Nur einen gab es, den man immer bitten konnte, der immer anwesend war: Vaterder, ich biß mir auf die Zunge, dubistimHimmel, murmelte es in meinem Kopf weiter. Ich hatte nicht einmal Platz, die Hände vor der Brust zu falten. Ich wehrte mich dagegen, zu beten, sondern versuchte, mich auf die Lichter zu konzentrieren: rot, grün, gelb. Ich durfte nicht aufgeben, sah meine Heimatkundelehrerin enttäuscht ihren Kopf schütteln, hörte das Lachen von Frau Goldhuhn und das Kichern von Peter und Jakob, das immer lauter wurde, unerträglich laut. Blau, grün, rot. Wenn ich jetzt betete, würde mein Bild nie an unserer Wandzeitung hängen. Grün, blau, gelb. Ein heller Strahl traf mich mitten ins Gesicht. Geblendet taumelte ich aus der Rakete, starrte in ein fremdes Gesicht: Wenn du nichts weißt, bekommst du keinen Punkt!
Ich stotterte, immer noch verwirrt, über meine plötzliche Rückkehr, etwas von blauen, roten, gelben Quadraten, Kreisen, Dreiecken. Fast schien es mir wie ein Wunder, daß ich drei Punkte bekam: Kosmonauten achten auf jedes Signal.
Noch etwas benommen lief ich von Station zu Station: Kosmonauten sind mutig — Kosmonauten haben ein gutes Gedächtnis — Kosmonauten lieben ihre Heimat, und stand schließlich vor dem letzten Tisch. Jetzt würde sich alles entscheiden, jetzt mußte sich alles entscheiden. Siebenundzwanzig Punkte konnte ich vorweisen, nur drei Punkte trennten mich noch von meinem Ziel. Die Aufgabe schien einfach zu sein. Mit einer Drahtschlinge mußte ich, ohne anzustoßen, dem Lauf einer Spirale folgen. Kam es zu einer Berührung, knisterten blaue Funken, eine Rundumleuchte begann sich zu drehen und signalisierte Punktabzug.
Ich nahm das Ende der Drahtschlinge zwischen Daumen und Zeigefinger, Kosmonauten haben in jeder Situation eine ruhige Hand, und begann. „Lockerlassen!“ sagte der prüfende Pionier, den ich bisher vor Aufregung überhaupt nicht beachtet hatte, und ich erkannte die Stimme sofort. „Die hat mir ein Bein gestellt!“ hatte er über den ganzen Schulhof geschrien und mir dabei den Arm herumgedreht. Dabei war der Junge nicht einmal hingefallen. Und überhaupt, warum wollte er mit meiner Brotbüchse Fußball spielen: Man achtet auf seine Schulsachen! Was konnte ich dafür, daß der aufsichtführende Lehrer in unserer Nähe stand. Jetzt würde sich der Junge für seinen Eintrag rächen. „Lockerlassen!“ Meine Hand zitterte, und die Rundumleuchte begann zu kreisen.
Ich war dem Weinen nahe. Der Junge richtete sich auf, sah mich an, als hätte er mich beim Lügen, Stehlen oder etwas anderem Schlimmen überrascht. Ich wendete mich ab, um ihm meine Tränen nicht zu zeigen. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich ihn die Punktzahl in das Testprotokoll eintragen. Schweigend schob er mir den Zettel über den Tisch. Etwas Unglaubliches war geschehen, der Junge hatte mir drei Punkte gegeben, ich hatte die Höchstpunktzahl erreicht. Ich rannte zur Tür. Der Pionier, der mir am Anfang das Protokoll überreicht hatte, nahm es jetzt wieder, prüfte die Anzahl der Stationen und addierte die Punkte. Ich war besonders geeignet. Er legte das Protokoll auf einen Stapel anderer Protokolle: „Du kannst dir ein Bild aussuchen!“ Vor ihm lagen, über den Tisch verteilt, Fotografien von Raumschiffen und Kosmonauten. Ich suchte, schob die Bilder beiseite, nahm jedes einzeln in die Hand, vergebens. Juri und Walentina waren nicht zu finden, auch mein Sputnik fehlte. „Da hättest du dich beeilen müssen!“
Ich stand vor dem Tisch, sah auf die Bilder mit den mir unbekannten Gesichtern und auf die Raumschiffe, deren Namen ich nicht lesen konnte.
„Nun mach kein Theater!“
Der Pionier drückte mir das Bild eines fremden Kosmonauten in die Hand und schob mich zur Tür.
Es war still im Haus. Schon längst mußten die anderen Kinder, ohne daß ich es bemerkt hatte, gegangen sein. Langsam lief ich den Weg über die endlosen Korridore zurück, fand die Steintreppe mit dem roten Teppich wieder und stand, wie vor Stunden, allein unter dem großen Leuchter. Ich betrachtete das Bild in meiner Hand. Es war das Porträt eines Mannes in Uniform, der, das konnte ich auf der Rückseite nachlesen, Wladimir Komarow hieß. Er hatte schwarze, nach hinten gekämmte Haare und abstehende Ohren. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Wie ich das Bild auch hielt, immer spiegelten sich darin die Glasblättchen des Leuchters über mir.
Es war kühl. Erst jetzt merkte ich, daß ich geschwitzt hatte. Mein Pullover klebte auf dem Rücken, auch mein Halstuch war feucht. Ich band es ab und steckte es zusammen mit dem Bild des fremden Kosmonauten in meine Anoraktasche. Mir fiel ein, daß ich vergessen hatte, meinen Namen und meine Adresse auf das Testprotokoll zu schreiben. Auch hatte ich vergessen, zu fragen, was mit dem Protokoll geschehen würde. Mir fehlte die Kraft zum Umkehren.
Ich trat auf die Straße und sah, daß die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite bereits dunkel waren. Jetzt würde ich auch noch zu spät nach Hause kommen.
Auf dem Korridor hörte ich, daß wir Besuch hatten. Ich klopfte, – gut erzogene Kinder klopfen an, wenn Besuch im Haus ist -, wartete eine Weile, trat in das Zimmer und sah zu meiner großen Ãœberraschung meine Heimatkundelehrerin neben meiner Mutter am Tisch sitzen. Auf dem Tisch standen die hellblauen Kaffeetassen, die meine Mutter sonst nur zu Geburtstagen aus der Glasvitrine holte. Auf den Untertassen erkannte ich die verschnörkelten Kaffeelöffel von Tante Elvira. Statt mir Vorhaltungen wegen meines Zuspätkommens zu machen, strich mir meine Mutter über den Kopf und meine Heimatkundelehrerin fragte an ihrer Stelle: „Wo kommst du denn her?“
Mir war, als ob meine Mutter zusammenzuckte. Ahnte sie etwas von meinem Test?
Noch bevor ich antworten konnte, sprang meine Mutter auf, schob mich zur Tür: „Geh Händewaschen! Hast du deinen Ranzen schon gepackt? Ich glaube, Du solltest erst Tante Elvira guten Abend sagen!“
Ich wehrte mich gegen den Druck ihrer Hände, stemmte mich gegen sie und es gelang mir, im Wohnzimmer zu bleiben. Ich wollte sagen, wo ich herkam, irgendwann würde es sowieso herauskommen, und vielleicht würde mich meine Mutter in Anwesenheit meiner Lehrerin nicht bestrafen.
Ich trat an den Tisch, zog das Kosmonautenfoto aus meiner Tasche und legte es zwischen die Kaffeetassen. „Ich war im Pionierhaus!“
Ich schloß die Augen und wartete auf eine Ohrfeige. Nur bei schweren Vergehen rutschte meiner Mutter die Hand aus, und ich war sicher, daß mein heimlicher Pionierhausbesuch ein besonders schweres Vergehen war. Nichts geschah. Meinem Geständnis folgte das schrille Lachen meiner Mutter: Die Kinder werden immer selbständiger.
Ich erfuhr nie etwas über den Grund des Besuchs meiner Heimatkundelehrerin. Es war eine schweigende Abmachung zwischen meiner Mutter und mir, daß ich von diesem Tag an nicht mehr in die Christenlehre gehen mußte. Mein Vater baute mir für das Bild von Wladimir Komarov einen Rahmen, damit ich es über mein Bett hängen konnte. Als Wladimir Komarow mit Sojus 1 tödlich verunglückte, malte ich einen schwarzen Streifen über das Bild. Erst später, als ich gemerkt hatte, daß ich es aus dem Rahmen herausnehmen konnte, wechselte ich es gegen ein anderes Bild aus.