Der Leipziger Beataufstand

Originalton Klaus Renft (Auszug)

O-Ton Gerhard Pötzsch:

Ich erinnere noch, da war das berühmte Fußballspiel DDR-Österreich, das war an einem Wochenende und da gab es damals das Verbot der Butlers.

O-Ton Klaus Renft:

Wir haben immer mit den Leipziger Behörden unsere Kämpfe gehabt. Man wollte von vornherein versuchen, die Butlers tot zu stellen. Ich weiß nicht, ob ich mehr Musik gemacht habe oder mehr verboten war. 47 Jahre auf der Bühne und ich glaube, die Hälfte davon war ich bestimmt verboten.

O-Ton Gerhard Pötzsch:

Da wurden an Schulen Zettel verteilt und alle munkelten hinter vorgehaltener Hand alle sammeln sich auf dem Leuschnerplatz, um zu demonstrieren.

Ansage:

Der Leipziger Beataufstand

Der Polizeieinsatz auf dem Leuschner-Platz am 31.Oktober 1965

Feature von Kathrin Aehnlich

 

Zitator:

Volkspolizeikreisamt Leipzig 26.10.1965

Sachstandsbericht

Am 25.10.1965 wurden durch unbekannte Täter in den Abendstunden im Stadtgebiet Leipzig Handzettel mit einen Aufruf an Beatfreunde verteilt.

Die Handzettel haben die Größe von DIN A 5. Bedruckt mit Druckbaukasten-Buchstaben.

Es handelt sich um den Fabrikationstyp:

-Stempelkasten Famos 502 I.Form – Produktion seit 1.1.1964

-Stempelkasten Famos 504 I.und II.Form – Produktion seit 2.1.1964

Sprecherin:

Der Stempelkasten „Famos“ ist ein beliebtes Kinderspielzeug in der DDR. Winzige Gummibuchstaben, die in eine Metallschiene gesteckt werden. Zeile für Zeile.

Doch was Grundschülern zum Schreiben und Lesenlernen dienen soll, erweist sich plötzlich als eine Vervielfältigungsmöglichkeit. – Und das in einem Land, in dem alle Druck- und Kopiergeräte registriert sind.

Die Flugblätter kleben an Straßenlaternen, an Litfasssäulen, an Wartenhäuschen. Sie liegen auf Stühlen in Gaststätten oder einfach nur am Straßenrand.

Zitator:

Beat-Freunde!

Wir finden uns am Sonntag, den 31.10.65

10 Uhr-Leuschnerplatz

zum Protestmarsch ein

Sprecherin:

Der Grund für den „Unmut“ der Leipziger Beat-Freunde ist das durch die SED Bezirksleitung plötzlich festgelegte Auftrittsverbot von 44 Gitarrenbands. Darunter die Lieblingsgruppe der Leipziger: The Butlers.

Die Butlers: Klaus Renft, Dieter Schmidt, Joachim Richter und Bernd Reiher – haben Anfang 1964 ihren ersten Auftritt. Sie spielen vor allem Titel, die sie sich aus dem West-Radio „heruntergehört“ haben: Von The Beatles, Deep Purple und The Rolling Stones.

O-Ton Pötzsch:

Und wenn die Konzerte dann zu Ende waren, dann waren alle euphorisch, es war eine riesige Stimmung. Und es wurde sich verabschiedet und man fiel sich da um den Hals, es war die beginnende Zeit von Flower-Power, alles Liebe, alles Freude, alles Brüder und Schwestern.

Sprecherin:

Die Genossen der Abteilung Kultur des Rates der Stadt Leipzig können die Euphorie des Schülers Gerhard Pötzsch nicht teilen – und sprechen der Band am 21.Oktober 1965 ein unbefristetes Spielverbot aus.

Zitator:

Begründung:

Während tausende junge Menschen unserer Stadt in der Volkskunstbewegung Freude, Erholung, Bildung und ästhetische Befriedigung suchen und finden, müssen wir feststellen, dass Ihre Gitarrengruppe der sozialistischen Laienkunstbewegung Schaden zufügt. Das Auftreten der Kapelle steht im Widerspruch zu unseren moralischen und ethischen Prinzipien.

Sprecherin:

Nur kurze Zeit scheint alles seinen sozialistischen Gang zu gehen. Schon vier Tage später, am 25.Oktober, tauchen in Leipzig die ersten Flugblätter auf.

Akribisch dokumentiert die Polizei und die Staatssicherheit jeden gefundenen Zettel.

Zitator:

Anlage zum Tagesrapport 268/65

Betrifft: Vorbereitung zum Landfriedensbruch und Verbreitung von Handzetteln

Nachfolgende Fundorte wurden bekannt: (Stichzeit 26.10.1965 02.30 Uhr)

„Straße der DSF – Wartehäuschen LVB St.Georg – 1 geklebt

Straße der DSF – Hinweisschild Nähe St.Georg – 1 geklebt

Chausseehaus – 1 verstreut

Eutritzscherstraße -Lichtmasten und Stadtbad – 3 geklebt

Petersstraße – vor HO Warenhaus -3 verstreut

Hauptbahnhof – auf südlicher Fahrbahn – 1 verstreut

Sprecherin:

Über einhundert Volkspolizisten sind im Einsatz. Jedes Detail wird hinterfragt: Lässt das häufige Auffinden der Zettel am rechten Straßenrand auf eine Verteilung aus einem Auto heraus schließen?

In einem Operativen Maßnahmeplan zur Kriminalakte ‚Beat‘ wird „eine Aufstellung aller PKW-Besitzer welche bisher Beat-Veranstaltungen mittels Fahrzeug aufgesucht haben“ gefordert. Die Zuarbeit liefern die Genossen der Staatssicherheit, die „vorausschauend“ seit Jahren alle Kennzeichen erfasst haben.

Schwerpunkt der Ermittlungen ist Gaststätte „Haus Wiederitzsch“. Dort wurde das erste Flugblatt gefunden.

Zitator:

Betrifft: Ermittlungen im „Haus Wiedritzsch“ am 27.10.1965

Mit dem Gaststättenleiter wurde am heutigen Tage in vorliegender Sache eine Aussprache geführt, wobei ihm deutlich gemacht wurde, dass er als Gaststättenleiter verpflichtet ist derartige Vorkommnisse aufzuklären, um Ruhe und Ordnung zu garantieren, und ansonsten geprüft werden muß, ob er für seine Tätigkeit geeignet ist.

Sprecherin:

Wer befand sich kurz vor dem Auffinden des Flugblattes in der Gaststätte. Was wurde gegessen, was wurde getrunken, welche Größe hatte der Geldschein mit dem bezahlt wurde. Die Stammgäste und der Kellner liefern detaillierte Personenbeschreibungen:

Ziator:

…vier Jugendliche die ihm nicht bekannt waren, jedoch durchaus Lehrlinge aus dem HVW(Holzverarbeitungswerk) – Wiederitzsch gewesen sein könnten, hätten sich in der Nähe des Ofens, auf der linken Seite des Lokals befunden. Rechts in der Ecke, am Eingang saßen 3 Jugendliche, die ihm jedoch ebenfalls nicht namentlich bekannt waren.

Und am Fundort zwei ihm völlig unbekannte, gut aussehende Männer. Es habe sich dabei um einen großen blonden – gelocktes Haar – gehandelt. (ca. 185 cm groß, schlank, ca. 30 Jahre alt, bekleidet mit modernen grauen Mantel und vermutlich braunem Reiselord)….

Sprecherin:

Neben der Suche nach den unbekannten Jugendlichen beschäftigt die Polizei vor allem die Frage: Woher bezogen die Täter in der rohstoffarmen DDR das Papier zum Druck der Flugblätter.

Zitator:

Leipzig 28.10.1965

Betrifft: Ermittlungen im Druckhaus „Einheit“ zu den Hetzzettelfunden

Genosse X, Leiter des Materiallagers und Kollege Y Arbeiter im Materiallager, beides gelernte Papierfachleute geben zur Qualitätsbestimmung folgendes an:

Es handelt sich offensichtlich um Importpapier vermutlich aus der Sowjetunion oder aus Jugoslawien. Das Gewicht pro Quadtratmeter beträgt 70 g. Es ist vollkommen Holzfrei und weist eine außerordentlich gute Qualität auf. Auf Grund der Struktur des Papiers sagten sie mit Bestimmtheit, dass es in keinem Betrieb der DDR hergestellt wurde.

Bei der Unterredung mit der Genn.Z. brachte sie zum Ausdruck, dass eine Genossin aus dem Druckhaus Einheit am 25.10.65 gegen 18.45 Uhr auf der Bank am Erich-Weinert-Platz einen gleichen Hetzzettel gefunden hat. Derselbe war mit Leim auf der Bank aufgeklebt. Der Zettel war vom Leim noch feucht.(…) Genn.Z. hat den Zettel am 26.10.65 an die Abteilung Sicherheit der SED Bezirksleitung gegeben.

Sprecherin:

Die meisten Flugblätter werden „brav“ bei Parteileitung, Staatssicherheit oder Polizei abgegeben. Auf der Suche nach „Abtrünigen“ observieren Kriminalbeamte in Zivil die Stadt Leipzig. Jugendliche, die sie bei einer öffentlichen Äußerung über das Beatverbot ertappen werden zum Revier gebracht und verhört.

Zitator:

Leipzig 29.10.1965

Protokoll

Betrifft Zuführung der Schüler XY wegen beabsichtigter Zusammenrottung der Beatgruppen

Sachverhalt:

Am 29.101965 gegen 13.30 Uhr stiegen beide genannte Schüler an der Straßenbahnhaltestelle Friedrich-Ebert-Str. Ecke Käthe-Kollwitz-Str. in die Linie 5 in Richtung Wilhelm-Leuschner Platz ein. In der Straßenbahn unterhielten sie sich über eine geplante Demonstration.

Beide Schüler wurden an der Haltestelle Karl-Tauchnitz-Brücke aufgefordert die Straßenbahn zu verlassen. Danach wurden sie zum VPKA zugeführt.

 

 

 

Sprecherin:

Woher wussten sie von der geplanten Demonstration? Wer hat Wann mit ihnen darüber gesprochen? Schulische Leistungen, Freizeitverhalten, Musikgeschmack; alles wird bis ins Detail im Protokoll festgehalten. Auch die nicht immer freiwillige Reue:

Zitator:

Befragungsprotokoll vom 29.101965

Nach den jetzigen Darlegungen habe ich erkannt, dass es ein Fehler wäre an dieser Demonstration teilzunehmen. (…) Ich werde morgen an unserer Schule bzw. Klasse diesen Standpunkt darlegen und verlangen, dass keiner an dieser Demonstration teilnimmt. Ich werde auch unseren Klassenleiter Herrn X davon unterrichten, dass er dieses Problem nochmals anspricht, wo ich ihn unterstützen werde.“

O-Ton Pötzsch:

Die Lehrer und der Direktor in der Schule, weiß ich noch genau, der kam da rein und sagte: Geht da ja nicht hin, dass ist eine Geschichte, die befindet sich außerhalb von dem, was man in einer sozialistischen Gesellschaft machen kann. Und das war für uns höchst interessant, war ziemlich bescheuert, dass die das so aufgefädelt haben, weil da hat man als 15-16jähriger, das findet man ja spannend.

 

Sprecherin:

Auf diese Weise wird die Ankündigung der geplanten Beatdemonstration in die Schulen getragen. Und wie im Falle des Schülers Gerhard Pötzsch erfahren so alle Musikfreunde Zeitpunkt und Ort der Aktion. Glauben die Lehrer wirklich, ihre Warnungen würden ernst genommen? Ist es Ahnungslosigkeit, Berechnung oder einfach nur Überschätzung der eigenen Macht?

O-Ton Pötzsch:

Uns wurde noch einmal mitgeteilt, was das eigentlich war und das die Leute, die Bands, um die es da ging dekadente westliche Einflüsse in unsere reine sozialistische Gesellschaft tragen, dass es möglicherweise vom Klassenfeind gelenkt worden ist und man sich tunlichst enthalten soll.

So richtig hat das keiner ernst genommen, für uns waren das Leute die eine Musik spielten, die uns nicht zuletzt durch diese Reaktion auf diese Andersartigkeit sehr interessiert hat.

Also da muss ich sagen, dass gerade bei dieser Band mich das Maß an Ehrlichkeit fasziniert hat. Im Gegensatz zu vielen anderen, die sich dann sehr angepasst haben ist diese Band für mich authentisch geblieben. Es gab wahnsinnig viel Ehrlichkeit so von der Grundhaltung her. Und das war etwas, was ich denen geglaubt habe. Also für mich waren das Idole.

O-Ton Klaus Renft:

Das Publikum war dankbar für die Atmosphäre, die rüber kam. Diese Rock’n roll Musik war ja ein Lebensgefühl. Deshalb hatten ja auch die Genossen Angst davor, dass sie das nicht richtig unter Kontrolle kriegten. Wenn wir zum Jugendtanz gespielt haben, dann war die ganze DDR mit ihrer FDJ vergessen. Das war ein Stück Freiheit. Wenigstens für diese paar Stunden. Man war weitgehend unter sich.

Zitator:

Leipzig, den 9.9.1965

Volkspolizeikreisamt

Sachstandsbericht

Ca.Juni 1964 erfolgte die Gründung der Laienkapelle „The Butlers“ Die Kapelle besteht aus 4 Personen. Der Aufbau und die Spielweise der Kapelle erfolgte nach dem Vorbild der engl. Kapelle „The Beatles“. Die Kapelle verfügt über eine Hallanlage, drei Elektroschlaggitarren, 1 Schlagzeug und 1 PKW.

Der Aufbau der Kapelle erfolgte aus dem Grund, um für die Jugend der DDR etwas Neues zu schaffen und nicht immer hinter dem „Westen“ herzuhinken.

Zum Deutschlandtreffen wurde diese Kapelle in Berlin eingesetzt und es wurde ihnen vom Zentralrat der FDJ eine Urkunde verliehen. Diese Auszeichnung nutzen sie jetzt aus, um bei den Dienststellen oder Veranstalter einen besonderen Eindruck zu erwecken.

 

Atmo: Originalton DDR Fernsehen

Kommentar zum Deutschlandtreffen

 

Sprecherin:

Der Höhepunkt der neuen Offenheit war wenige Monate zuvor das Deutschlandtreffen in Ostberlin. Die Mauer im Rücken gestattet Walter Ulbricht seiner Jugend während der Pfingsttage 1964 den Tanz auf allen Straßen. Und die Partei preist „Tanz als Ausdruck legitimer Lebensfreude und Lebenslust“.

Atmo: Originalton DDR Fernsehen:

Walter Ulbricht: Ich erkläre das Deutschlandtreffen zu Pfingsten 1964 für eröffnet

Beifall

 

O-Ton Hans Modrow:

Weil Ulbricht glaube ich, ein Gefühl für Entwicklungen hatte. Man begriff natürlich, dass, will ich die Jugend gewinnen, auch das annehmen muss, was Jugend bewegt und Jugend begeistert. Die Zeit wo wir gegen Ringelsocken, gegen Nietenhosen, gegen westlichen Tanz kämpften, war in der Tat vorbei, weil wir begriffen und spürten, mit nur immer Gegen geht nicht.

Das spielte ja auch immer wieder mit in diesen Auseinandersetzungen, wir sind stark genug und können uns was erlauben, das muss man mit im Auge haben, dass man auch Dinge zuließ, von denen man das Gefühl hat, sie führt die Jugend nicht weg von der DDR, sie bleiben auch mit den Gefühlen in der Nähe dessen, was einen jungen Sozialisten ausfüllen sollte.

Sprecherin:

Hans Modrow ist damals Jugendfunktionär. Auf Vorschlag des FDJ-Zentralrats bekommt das Pfingsttreffen sogar eine eigene Jugendwelle: Deutschlandtreffen 64. Sie sendet aus einem provisorischen Studio in der Möbelabteilung des Centrum Warenhauses und berichtet live von den Auftritten der Amateurbands. Egal ob das „Diana Show Quartett“ aus Berlin mit Frontmann Achim Menzel oder die „Butlers“ aus Leipzig spielen – die Fans sind begeistert.

O-Ton Klaus Renft:

Wir sind von der Polizei, was völlig ungewohnt war für uns, in Friedrichshain an die Bühne begleitet worden. Es waren ein paar Tausend Menschen da. Und es war für uns ein großes Erlebnis, die kamen auf die Bühne mit Blumen und haben gesagt: Die Berliner Fans grüßen die Leipziger „Butlers“. Da fingen wir an mit einem Rolling Stones Titel. Und es war eine Euphorie, das kann sich keiner vorstellen. Fast eine Massenhysterie. Die sind auf die Bäume gestiegen. Da war so ein dicker Ast, da saßen sechs oder sieben Leute drauf, der brach dann ab, klatsch, das hat aber keinen gestört. Wir mussten dann richtig von der Bühne flüchten, die Leute hinterher, wollten Autogramme haben. Wir waren doch auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet. Wir waren ja von der Provinz. Zwischen Leipzig und Berlin war ja immerhin ein großer Unterschied. Aber es hat nicht lange angehalten. Wir kamen nach Leipzig zurück und die Schikanen gingen gleich weiter.

Zitator:

Leipzig, den 9.9.1965

Volkspolizeikreisamt

Sachstandsbericht zur operativen Bearbeitung der Kapelle „The Butlers“

Da die bezeichnete Kapelle einen Brennpunkt in der Konzentration von Jugendlichen darstellt und die Jugendlichen negativ durch die Spielart beeinflusst werden, wird vorgeschlagen, die Kapelle sowie die jugendlichen Gruppen, welche laufend Tanzabende dieser Kapelle besuchen, in die operative Bearbeitung zu nehmen.

Sprecherin:

Die Genossen der Leipziger SED-Bezirksleitung reagieren misstrauisch auf die bejubelten Auftritte der „Butlers“ während der Berliner Pfingsttage. In einem Bericht schätzt ein Funktionär der „Ideologischen Kommission der FDJ-Leitung der Stadt Leipzig bereits im September 1964 ein, „daß die Spielart sowie die Schlagererfolge nicht zu einer positiven Erziehung der Jugend beiträgt. Ihm sei unverständlich, dass eine derartige Kapelle die Spielerlaubnis erhalten habe.“

Und ein junger Genosse schreibt nach einem Konzertbesuch an das „Sehr geehrte Polizeipräsidium (…)

Zitator:

Hiermit möchte ich eine wichtige Nachricht überbringen. Vorigen Sonntag war ich mit meiner Verlobten in Holzhausen in dem sächsischen Haus tanzen. Alle beide waren wir entsetzt, dass in einem Arbeiter- und Bauern-Staat solche Musik zugelassen wird.(…) Die Kapelle muss sofort von der Bildfläche verschwinden. Sie soll die Jugend nicht mit ihrer amerikanischen Musik verseuchen.

Sprecherin:

Doch nicht nur in Leipzig gibt es Gegner der neuen Jugendpolitik. Vor allem der Verantwortliche für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee der SED Erich Honecker wendet sich gegen Ulbrichts neues Musikverständnis. Vorerst ohne Erfolg. In einem „Standpunkt der Abteilung Kultur zur Arbeit mit den Gitarrengruppen“ bezeichnen die Funktionäre des FDJ-Zentralrates den „Gitarrensound als progressive Erscheinung der Tanzmusikentwicklung“ und das volkseigene Label „Amiga“ presst zwei „Big Beat Sampler“ mit Instrumentaltiteln vieler Amateurbands, darunter auch den „Butlers Boogie“.

Es scheint eine Ironie des Schicksals zu sein, dass ausgerechnet die von vielen Ostmusikern angebeteten Rolling Stones dem fröhlichen Jugendleben ein Ende setzen. Das Konzert am 15.September auf der Westberliner Waldbühne wird zum Fiasko.

Originalton Fernsehen West:

21 000 Menschen in der Waldbühne, die wie ein Pulverfass explodierte, als Tausende von jugendlichen Beatfans der Massenpsychose verfielen und aufgepeitscht durch die hämmernden Rhythmen, nicht mehr wussten, was sie taten. Während und nach dem Auftreten der Beatband feierte die Zerstörungswut hemmungsloser Jugendlicher wahre Triumphe.

Sprecherin:

Ängstlich verfolgen die Genossen aus Ostberlin die Fernsehberichte über die Vorkommnisse auf der anderen Seite der Mauer. Schnell steht der Schuldige fest: Die Beatmusik.

Walter Ulbricht befindet sich im Urlaub. Und es scheint, als hätte Erich Honecker, der Mann im Hintergrund, nur auf diesen Moment gewartet. Auf sein Drängen hin berät das Zentralkomitees über „Fragen der Jugendarbeit und das Auftreten des Rowdytums“. Das Verhalten aller Beatfans im Land wird kriminalisiert.

Zitator:

„Der Minister des Inneren wird beauftragt, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten, dass die Abteilung des Inneren der Räte der Bezirke und Kreise die Mitglieder solcher Gruppen (Gammler u.ä.) die gegen die Gesetze der DDR verstoßen eine ernste Gefährdung der Ordnung hervorrufen, durch Gerichtsbeschluss, entsprechend der Ordnung vom 24. August 1961 in Arbeitslager eingewiesen werden.“

Sprecherin:

Auf Anregung Erich Honeckers sollen die „staatlichen Finanzorgane“ nach Steuerhinterziehung bei den Gruppen fahnden, mit dem Ziel, den Musikern die Lizenz zu entziehen.

Dankbar greifen die Genossen in Leipzig die Empfehlung auf und verbieten sofort 44 Amateurbands „auf Lebenszeit“. Darunter natürlich die in der Stadt sehr beliebten Butlers.

Sofort bläst die Presse zum Sturm. Die Leipziger Volkszeitung schreibt:

Zitator:

Im Appell an niedere Instinkte, im Ausscheiden jeglichen Denkens liegt schließlich potenziell eine neue Kristallnacht begründet.

Sprecherin:

Gegen die Musiker wird neben:

Verdacht auf ideologische Diversion – Groben Unfug – Landfriedensbruch –

Aktiven Rowdytum und Hetze – vor allem wegen Steuerhinterziehung ermittelt.

10 000 Mark sollen die vier Musiker unterschlagen haben. Dieser Vorwurf erscheint den Kulturfunktionären am besten geeignet die Band in der Öffentlichkeit bloß zu stellen. Und auch an den Musikfans wird „kein gutes Haar“ gelassen.

O-Ton Pötzsch:

Das war eine höchst verlogene Geschichte. Da wurde geschrieben: Gammler sind dreckig und sind arbeitsscheu und lauter so ein Schwachsinn.

Nun galt selbst ich mit meinen damals „Mutzeln“ was die Haarlänge betraf, selbst ich wurde in der Straßenbahn angemacht, oder auf der Straße blöde vollgequatscht von der Seite, ich habe das überhaupt nicht verstanden.

In der Straßenbahn, da haben Leute empört die Plattform verlassen und sich aufgeregt, wenn ich einstieg. Und ich stand da völlig fassungslos da und habe das nie begriffen.

O-Ton Klaus Renft:

Das war natürlich eine Zäsur. Da hatten sie noch einen ganz bösen Artikel in der Leipziger Volkszeitung, der hieß: Missbrauch der Jugend keinen Raum. Und da wurden diese Musiker als Steuerhinterzieher, Arbeitsbummelanten, Gammler, Rowdys – übelst beschimpft. Und das war ein Signal an die Jugend, weil ihre Musik war plötzlich verschwunden. Und da tauchten in Leipzig Flugblätter auf: Beatfreunde wir treffen uns am 31. Oktober auf dem Leuschnerplatz zur Demonstration.

Sprecherin:

Trotz eifrig durch Polizei und Staatssicherheit eingesammelter Flugblätter, trotz Warnungen in den Schulen, trotz Strafandrohung: In den Vormittagsstunden des 31.Oktober treffen sich nach Polizeiangaben etwa 1000 Beatfreunde auf dem Wilhelm Leuschnerplatz in Leipzig (Augenzeugen berichten von über 2000 Personen). Unter den Demonstranten sind die Musiker der „Butlers“, der Beat-Fan Gerhard Pötzsch und der Schriftsteller Erich Loest, der dieses Ereignis später in seinem Buch „Es geht seinen Gang“ beschreiben wird.

O-Ton Erich Loest:

Und ich bin dann hinein gegangen am Sonntagmorgen in die ruhige Stadt und habe da alles erlebt, was sich da abgespielt hat. Und da waren keine Spruchbänder und da waren keine Losungen, und da waren keine Rädelsführer, und die Jungs standen da ein bisschen, und ich bin überzeugt, nach einer Weile wären die still nach Hause gegangen.

O-Ton Klaus Renft:

Da kam plötzlich ein Polizeiauto mit vier Lautsprechern: „Bürger, das ist eine illegale Ansammlung, bitte verlassen sie sofort die Straße! Da haben wir uns auf den Bürgersteig gestellt. Da standen wir dann da wie die Heringe. Und es passierte wieder nichts.

O-Ton Erich Loest:

Aber dann kommt die Staatsmacht, kommt ein Wasserwerfer, dann kommen Lastwagen mit Polizisten und dann kommt vom Ringcafé her eine Kette von Polizisten mit Hunden.

Und dann ging’s los, dann wurden die Jungs gejagt, in die Seitenstraßen getrieben und eingekesselt. Der Wasserwerfer hat gespritzt und die Polizisten haben geknüppelt.

O-Ton Renft

Und der Wasserwerfer, der hatte einen Strahl drauf, sagenhaft. Aber da war kein Wasser drin sondern aus der Jauchengrube. Jedenfalls hinterher hab ich gestunken, das war grausam.

Die Jugendlichen, die innerhalb des Ringes waren, die wurden in die Messepassagen getrieben. Mit den Hunden, die haben dann immer so in die Waden gezwickt und dann kamen LKW’s, da wurden die Jugendliche draufgeschmissen. Und die hatten extra in der Kästnerstraße das Gefängnis ausgeräumt. Vorbereitet.

Und die als Rädelsführer festgelegt wurden, die müssten in die Braunkohle und mussten so wie sie waren in ihrer Sonntagskluft vier Wochen im Arbeitslager, in der Braunkohle in Regis-Breitlingen arbeiten. Das war ein trauriges Ende dieser kleinen Hoffnung Beatmusik in der DDR.

Zitator: (Kurz stehen lassen, dann als Atmo verwenden)

Bezirksverwaltung Leipzig

Abteilung II

Leipzig, 25.November 1965

Abschlussbericht über das Ereignis der Untersuchungen der Vorkommnisse am 31.10.1965 in Leipzig

Wegen ihrer Teilnahme an der erfolgten Zusammenrottung wurden am 31.10.1965 bei der Deutschen Volkspolizei insgesamt 264 Personen zugeführt.

Diese untergliedern sich wie folgt.

(Bitte bei jeder Zeile die Kopfzeile mitlesen z.B. Alter:14-16 Jahre – Gesamt 20 – davon im Arbeitslager 2…)

Alter Gesamt davon im Arbeitslager Entlassungen

14-16 20 2 18

16-18 72 37 35

18-21 108 50 58

21-25 40 12 28

über 25 24 6 18

letzte Tätigkeit

Schüler 20 4 16

Lehrlinge 66 41 25

Arbeiter 166 57 109

Studenten 8 2 6

Ohne Be- 1 1 –

schäftigung

Sonstiges 3 2 1

Soziale Herkunft

Arbeiter 155 68 87

Angestellte 58 22 36

Intelligenz 7 3 4

Handwerker 23 3 20

und Gewerbe-

treibende

sonstige 21 11 10

Sprecherin (auf Atmo):

In Seitenlangen Aufstellungen wird alles dokumentiert:

Letzte Tätigkeit, Soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu Partei und Massenorganisationen, Parteizugehörigkeit der Eltern. -„, kein Detail bleibt den Genossen verborgen.

Nach einem sofort eingeleiteten Strafverfahren werden 107 Jugendliche wenige Stunden nach ihrer Festnahme zu einem „mehrwöchigen beaufsichtigten Arbeitseinsatz als notwendige Erziehungsmaßnahme“ in den Braunkohlentagebau Regis-Breitingen gebracht. Sie verlegen Eisenbahnschwellen oder verrichten andere schwere körperliche Arbeit.

Zitator:

Alle 107 Personen wurden entsprechend der Urteile im Braunkohletagebau Regis-Breitingen eingesetzt. An der Gerichtsverhandlung gegen die Jugendlichen nahmen die Eltern bzw. ein Elternteil, Vertreter der Betriebe und solche des Referats Jugendhilfe teil. Während der Verhandlungspause bis zur Ansetzung des Urteils erfolgten durch den anklagevertretenden Staatsanwalt mit dem zur Verhandlung geladenen Personenkreis Aussprachen zur Festlegung wirksamer Erziehungsmaßnahmen.

Sprecherin:

Auch nach den Verhaftungen auf dem Leuschner Platz setzen Polizei und Staatssicherheit ihre Ermittlungen fort. In der Zeit vom 31.10.1965 bis 28.11.1065 werden…

Zitator:

… insgesamt 61 Personen der Abteilung XX(20), Bezirksverwaltung Leipzig zugeführt. Von diesen 61 Personen wurden gegen 38 Ermittlungsverfahren eingeleitet und 23 zur Prüfung von Anzeigen, Aussagen sowie inoffiziellen Informationen vernommen.

Sprecherin:

Die Herkunft der Flugblätter ist bereits nach einer Woche geklärt. Am 7.11.1965 wird gegen zwei Brüder, Schüler einer Markkleeberger Oberschule, Haftbefehl erlassen.

Zitator:

Markkleeberg, den 06.11.1965

Betrifft: Meldung über die Täter der Flugblattverteilung

Bezug: Gegebene Veranlassung

Am 06.11.65 13.10 Uhr wurde durch den Schuldireketor der XY-Oberschule Genossen Z. dem Revierleiter mitgeteilt , dass Schüler seiner Schule Flugblätter hergestellt und verbreitet hatten, welche im Zusammenhang mit den Gitarrengruppen in Leipzig Sondermaßnahmen erforderlich machten.

Am 23.10.1965 wurden durch die Oberschüler F. und H. 174 Flugblätter selbst gedruckt. Der Druckkasten „Multiprüfer 2″ wurde vorher in der Ernst-Thälmann-Str. bei der Firma NN gekauft.

Am 27.10.65 wurden nochmals 200 Flugblätter mit selben Inhalt erstellt, jedoch nach Angaben des H. vernichtet. Ebenfalls soll nach Angaben des H. der Druckkasten vernichtet worden sein.

Die Mutter des H. hatte von diesen Vorkommnissen am 05.11.65 den Lehrer des Sohnes Mitteilung gemacht und dieser seinen Schuldirektor sofort informiert. Der Schuldirektor hatte die ersten Befragungen durchgeführt und sofort den Bürgermeister verständigt, welcher dann dem Revierleiter Meldung erstattete.

Sprecherin:

Alle 174 gedruckten Flugblätter hat die Staatssicherheit gefunden und protokolliert. Zur Beatdemonstration selbst sind die beiden Brüder nicht gegangen – aus Angst.

Erich Honecker hat es geschafft. Walter Ulbricht muss handeln, um seine Autorität zu wahren. Zwei Tage nach dem Protest und den Verhaftungen in Leipzig schickt er ein Rundschreiben an alle Bezirke, in dem er „die Zwischenfälle als Menetekel ersten Ranges kennzeichnet. Sie hätten erneut bestätigt …

Zitator:

dass mit Hilfe der sogenannten Beat und Gammlergruppen ideologische Zersetzungsarbeit geleistet werden soll. (…) Es war falsch, dass von Seiten des Zentralrates der FDJ der Wettbewerb von Beatgruppen organisiert und die Auffassung verbreitet wurde, dass im Unterschied zu Westdeutschland Westschlager und Beatmusik bei uns keine schädliche Wirkung hervorrufen können.

Sprecher:

Höhepunkt der neuen „Einsicht“ wird das 11.Plenum des ZK der SED im Dezember 1965. Der 1.Sekretär des FDJ Zentralrates und spätere Vorsitzende der SED-Bezirksleitung Leipzig Horst Schumann bekennt seinen Irrtum öffentlich. Er hätte geglaubt…

Zitator:

…die Beatmusik sei eine internationale Welle, hinge mit der technischen Revolution zusammen und widerspreche nicht dem sozialistischen Lebensgefühl.

Sprecherin:

Jetzt ist auch dem letzten Genossen klar: Diese Musik hat der Feind geschickt. Und Walter Ulbricht bringt es mit seinen oft zitierten Worten auf den sozialistischen Punkt:

O-Ton Walter Ulbricht:

Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck der vom Westen kommt kopieren müssen? Ich denke Genossen, mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heißt ja, sollte man doch Schluss machen.

Sprecherin:

Für den Minister für Staatssicherheit Erich Mielke ist in diesem Fall noch längst nicht Schluss:

Zitator:

Vertrauliche Verschlusssache

Dienstanweisung 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR

Ausgehend von der Einschätzung der politisch-operativen Situation unter jugendlichen Personenkreisen und den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Feindtätigkeit weise ich an:

Zur gründlichen Einschätzung der politisch-operativen Situation unter jugendlichen Personenkreisen, zur rechtzeitigen Erkennung und Verhinderung feindlicher Handlungen Jugendlicher, zur richtigen Einschätzung der Angriffsrichtung des Gegners sowie zur Einleitung wirksamer vorbeugender Abwehrmaßnahmen sind verstärkt Werbungen von inoffiziellen Mitarbeiter unter diesen Personenkreisen durchzuführen. (…)

Die Kandidaten sind vorrangig unter Kreisen Haftentlassener, Rückkehrer und Neuzuziehender, politisch Schwankender, jugendlicher Studenten, Anhänger westlicher Dekadenz, gefährdeter und krimineller Gruppierungen jugendlicher Personen und kirchlich gebundener Jugendlichen auszuwählen.

Sprecherin:

Gehorsam öffnen die Genossen in Leipzig ihre Beatverbot-Akten:

Zitator:

Vorschlag zur Werbung

Ich beabsichtige den Jugendlichen X

Als inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben.

Der Obengenannte wurde mir bekannt als er bei den Ausschreitungen am 31.10.1965 in Leipzig in Erscheinung trat.“

Sprecherin:

Doch nicht nur die Fans, auch die Musiker bleiben im Fadenkreuz der Staatssicherheit.

Zitator:

Beobachtungsbericht zur Kriminalakte „Beat“

Deckname: Spieler

Sonntag 7.November 1965 8- 22.00 Uhr

8.00 Uhr wurde die Beobachtung am Wohngrundstück aufgenommen

11.55 Uhr verließ der sein Wohngrundstück und begab sich

12.03 Uhr zur Hermann-Liebmann-Str. X vermutlich linke Wohnung

An dieser Tür befindet sich der Name R.

14.02 verließ er dieses Grundstück wieder und begab sich zur Erich-Fernstraße.

14.08 Uhr betrat er hier eine Telefonzelle und führte über 10 Minuten lang ein Gespräch.

Sprecherin:

Ende des Jahres 1965 sind in Leipzig die Saiten der E-Gitarren verstummt. Die Beatfans haben kurze Haare. Die Musiker werden ins „Berufsleben“ eingegliedert. Klaus Renft verkauft in der Musikalienhandlung Oelsner in der Leipziger Innenstadt Noten.

Trotzdem. Hinter dem Rücken der Macht mutieren die Musiker der „Butlers“ zum „Ulf Willi Quintett“ und spielen im Dunkel einer Leipziger Nachtbar zum Tanz. Erst Jahre später werden sie als „Klaus Renft Combo“ für kurze Zeit eine musikalische Auferstehung feiern. Bevor sie dann endgültig verboten werden.

Musik

Vorschlag: Klaus Renft Combo: Nach der Schlacht (Nach der Schlacht waren alle Wiesen rot, nach der Schlacht waren alle Kameraden tot)

Absage:

Der Leipziger Beataufstand

Der Polizeieinsatz auf dem Leuschner-Platz am 31.Oktober 1965

Feature von Kathrin Aehnlich

Interviews Kathrin Aehnlich und André Meier