Leseprobe: Die Weihnachtsstolle

Rechte Kathrin Aehnlich (Text) Arche-Verlag Zürich/Hamburg (Hörbuch)

Alle Jahre wieder

Die Vorbereitungen begannen eine Woche vor dem ersten Advent. Genau dann, wenn in den Blumenläden die übriggeblieben Gebinde vom Totensonntag zu Adventsgestecken umdekoriert wurden, die Kassiererin aus dem Lebensmittel-Konsum einen Papp-Weihnachtsmann zwischen die Marmeladengläser im Schaufenster stellte und der Verkäufern in der Drogerie pünktlich jeden Nachmittag um drei eine echt erzgebirgische Räucherkerze abbrannte. Meist fiel in dieser Woche der erste Schnee, große schwere Flocken die unsere Stadt für einen Moment in leuchtendes Weiß tauchten, bis der Wind sie wieder von den Dächern wehte und nur noch kleine schmutzige Pfützen auf den Gehwegen übrig blieben. Vorfreude ist die schönste Freude, sang unsere Musiklehrerin und ich ging noch einmal in Gedanken alle Positionen auf meinem Wunschzettel durch. Meinen Eltern zu liebe schrieb ich jedes Jahr an den Weihnachtsmann und gab vor, darauf zu warten, dass mir die Wichtelmänner meinen Adventskalender bringen würden. Wenn ich abends im Bett lag, hörte ich, wie mein Vater die Kartons aus der Abstellkammer holte: Die Pyramide, der Räuchermann mit dem angeklebten Arm, die Spieluhr, die regelmäßig bei der zweiten Strophe von „Oh du Fröhliche“ hängen blieb. Mein Vater musste alle Wichtmänner allein ersetzen, denn meine Mutter war in der Woche vor dem ersten Advent nicht ansprechbar. Sie kniete vor dem Küchenschrank und sortierte die Vorräte, deren Bestandshaltung sich an einer geheimen Vorgabe orientierte: eine Tüte Mehl, eine Tüte Kristallzucker, ein Paket Fadennudel, Linsen, Salz, mindestens fünf Packchen Backpulver. Ich war sicher, dass unsere Familie bei einer plötzlichen Hungersnot am längsten im Haus überleben würde. Aber es ging meiner Mutter in diesem Moment weniger um Krisenvorsorge, als um die Vorbereitung der wichtigsten Herausforderung ihres hausfraulichen Könnens. Auch wenn sie sonst auf diesem Gebiet wenig Emotionen zeigte und es gelassen hinnahm, wenn mein Vater behauptete, dass der Sauerbraten zäh wäre und ihr Tante Mürzels Frage, ob die Klöße nicht ein wenig abgekocht seien, nicht einmal ein Augenbrauenhochziehen wert war, glaube ich, dass sie jeden sofort getötet hätte, der auch nur andeutungsweise ein schlechtes Wort über den Geschmack ihrer Weihnachtsstolle verloren hätte. Das Stollenbacken war eine Frage der Ehre. Die Rezeptur folgte einer alten Familientradition und im Gegensatz zu allen anderen Rezepten, die meine Mutter zusammengefaltet hinten in ihrem Kochbuch aufbewahrte, lag das Stollenrezept im Schrank in der schwarzen Kassette zwischen Geburtsurkunden und Versicherungspolicen. Und wenn wir bei schweren Gewittern angezogen auf dem Korridor saßen und die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählten, presste meine Mutter die Kassette gegen ihre Brust und ich war sicher, wohin auch immer wir fliehen würden, wenn unser Haus abbrannte, an dem Sonnabend vor dem ersten Advent, würden wir nach diesem Rezept Stolle backen. Es war eine herausgerissene Heftseite auf dem meine Urgroßmutter das Familiengeheimnis mit steiler Süderlinschrift für immer festgehalten hatte. Wenn ich den Bogen gegen das Licht hielt, hatte ich das Gefühl, ich könne an einigen Stellen durch das Papier hindurchsehen. Doch allen Fettflecken zum Trotz hatte die Schrift stand gehalten. Eine Prise Muskat, zwei Messerspitzen Kardamon – die Botschaft aus einer fernen Welt, die nur uns erreicht hatte, die wir befolgen und was das schwierigste war, auch noch für uns behalten mussten. Nie hätte meine sonst so gesprächige Mutter, die unserer Nachbarin selbst das Glas mit den Gallensteinen meines Vaters gezeigt hatte, auch nur eine Position oder Dosierung preisgegeben. Denn nur unser Rezept war das wahre Stollenrezept und nur unsere Stolle war es wert, gegessen zu werden. Die Rezeptur stellte meine Mutter auf eine harte Probe, denn der volkseigene Handel kümmerte sich wenig um die Tradition meiner Familie.

Die ersten Vorbereitungen begannen im Sommer. Beinahe täglich kontrollierte meine Mutter das Regal mit den Backzutaten in unserem Lebensmittel-Konsum und trug jedes verfügbare Päckchen Zitronat in unsere Wohnung. Wir waren dabei völlig auf uns gestellt, denn ein tragisches Busunglück hatte uns Tante Gislinde aus Wuppertal entrissen: Oh Schicksal, wie bist du so hart. Es folgte ein zähes Ringen um jede Tüte Rosinen, denn die Verteilung erfolgte nach Laune der Verkäuferin. Schließlich sollte es für alle reichen, auch für die mit noch lebender Westverwandtschaft und für jene, die ihre Westverwandtschaft verschwiegen und trotzdem Pakete bekamen, was meine Mutter ungerecht fand.

Die Backvorräte stellten mich auf eine harte Probe, denn ich bettelte nicht wie die anderen Kinder ständig um Eis, Bonbons oder Schokolade, meine ungebremste Leidenschaft galt Rosinen. Ich liebte Rosinenbrötchen, Rosinenkuchen und hätte für eine Tüte Studentenfutter sogar den dicken Olaf Zutter aus dem Nachbarhaus geküsst. Die Vorräte im Küchenschrank brachten mich schier um die Verstand. Je näher das Weihnachtsfest rückte, um so häufiger zählte ich die Rosinentüten, verglich die vorhandene Menge mit dem Rezept, immer in der Hoffnung, es könnte eine Tüte zuviel sein. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich mir eine Handvoll Rosinen auf einmal in den Mund stecken würde und obwohl mir meine Mutter dafür mit Todesstrafe gedroht hatte, nahm ich eine Tüte in die Hand. Vergebens mühte ich mich, zu widerstehen. Ich reduzierte meine Wünsche auf nur eine, eine einzige Rosine und bohrte ein winziges Loch in des Zellophan. Ich drückte die Rosinen vorsichtig durch die Öffnung und nach der zehnten kugelten die Rosinen bereits in großen Klumpen auf meine Hand. Und während ich genüsslich darauf herumkaute, wurde mir bewusst, dass die Tüte nur noch halbvoll war. Ich sah mich am Marterpfahl um mein Leben bitten, täglich einen Teller Linsensuppe mit Blutwurst essen. Nie wieder würde ich ein Geburtstagsgeschenk bekommen und müsste im leergeräumten Kinderzimmer jahrelang auf meine Verurteilung warten. Ich erinnerte mich an die Tragödie vom Vorjahr, als der volkseigene Handel, meiner Mutter das Zitronat verweigert und sie in ihrer Verzweiflung als Ersatz kleingeschnittene grüne Tomaten im Tiegel kandiert hatte. Ich überlegte ob es ein Nahrungsmittel mit rosinenähnlichen Bestandteilen geben könnte und verbrachte meine Nachmittage bis zum ersten Advent damit, allen Tüten das gleiche Gewicht zu geben. Es war das Jahr, in dem wir zum ersten Mal Quarkstolle buken, schließlich musste man auch einmal etwas neues ausprobieren, wir waren moderne Menschen, die sich weiterentwickelten, im Gegensatz zu anderen.

Der Kowndown setzte immer am Vorabend ein. Meine Mutter holte das Rezept aus der Kassette, sie hielt es in der Hand, als wäre es ein Auszug aus der heiligen Schrift und las es mit einer Stimme vor, mit der ich in der Schule Gedichte aufsagen mussten. Drei Kilogramm Schmelzbutter, zweihundert Gramm Orangeat und mein Vater stapelte die Backvorräte auf dem Küchentisch. Im Pfeifkessel brodelte das Wasser, die Fensterscheiben beschlugen und an dem Ölsockel hinter dem Herd bildeten sich kleine Wassertropfen. Zuerst wurden die Mandeln gebrüht. In einer großen Schüssel die süßen und in einer kleine die bitteren. Und jedes Mal wurde mir dabei die Geschichte von dem Kind erzählt, dass trotz Warnung der Mutter bittere Mandeln genascht hatte. Es gehörte in die Reihe zu dem Kind, das bei roter Ampel über die Kreuzung gegangen war, dem Jungen der mit zwei Stricknadeln in den Löchern der Steckdose bohren wollte und zu dem Mädchen, dass sich zu weit im Zoo über das Absperrgitter vom Eisbärengehege gebeugt hatte. Aber warum hätte ich bittere Mandeln essen sollen, wenn genügend süße vorhanden waren?

Ich fischte sie aus dem heißen Wasser, schob sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, bis sich die Schale löste und ließ die Kerne auf ein Holzbrett gleiten. Doch ich durfte nicht zu sehr drücken, denn dann schnipste der Mandelkern durch die Küche und ich wurde an das Mädchen erinnert, dass ihren Bruder damit das Auge ausgeschossen hatte. Auf dem Fensterbrett lag Heftpflaster bereit, aber das war für meinen Vater, der die Mandeln mit einem Wiegemesser klein hacken musste, während meine Mutter die bitteren durch die Mandelmühle drehte. Voller Abscheu erzählte sie dabei von der Kassiererin aus dem Lebensmittelladen, die behauptet hatte, dass Mandelaroma nicht von echten Mandeln zu unterscheiden sei. Zum Beweis steckte sich meine Mutter eine Mandel in den Mund, erwischte eine bittere und verzog das Gesicht.

Meine Lieblingsarbeit war Rosinen auslesen, zwar musste ich dabei pfeifen, doch mit einiger Übung gelang es mir, die Rosinen einzeln zwischen die gespitzten Lippen zuschieben und unter der Zunge zu verstecken. Ganz langsam breitete sich der süße Geschmack in meinem Mund aus und ich stellte mir vor, wie ich am Weihnachtsabend das erste Stück Stolle essen würde.

Kurz vor Mitternacht war auch das Zitronat in der vorgeschriebenen Größe geschnitten, die letzten Kardamonkerne zerstoßen und alle Backzutaten in der hellbraunen Kunstledertasche verstaut. Jetzt waren wir bereit für eine Reise um die Welt.

Die Abfahrt war Sonnabendfrüh pünktlich fünf Uhr und natürlich hatte meine Mutter in der Nacht kein Auge zugetan, sich im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt, immer in der Angst, etwas vergessen zu haben. Sie verstand nicht, wieso mein Vater ruhig schlafen konnte, aber das war wieder einmal typisch. Sie lief in der Wohnung auf und ab und murmelte die Zutaten wie Beschwörungen vor sich hin und mein Vater musste sie ständig davon abhalten, die Reisetasche wieder auszupacken. Meine Mutter erinnerte nur an Frau Wengel, die einmal ohne Schmelzbutter gekommen war.

Überall im Haus rumorte es an diesem frühen Sonnabendmorgen. Ich hörte die polternden Schritte im Treppenhaus. Den spitzen Schrei: Oh Gott die Korinthen! Das war Frau Domhardt, die so vergesslich war, dass ihr im Beisein unseres Drogerieverkäufers ständig entfiel, dass sie verheiratet war, ganz abgesehen davon, dass nach Meinung meiner Mutter Korinthen im Stollenteig nichts zusuchen hatten.

Die Bäckerei lag gleich neben der Drogerie, drei Querstraßen weiter. Unser Atem trieb kleine Wolken in die kalte Morgenluft. Noch war die Stadt ganz still. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Licht der Straßenlampen. Hin und wieder huschte eine vermummte Gestalt mit großer Tasche über die Straße und auch meine Mutter rannte, als wäre sie auf der Flucht. Sie wollte eine der ersten sein, hatten wir vergessen, dass zwei Jahre zuvor, die alte Frau Krause, zum Backen gekommen war, obwohl sie gar keinen Termin hatte und der mitleidige Bäcker sie nicht nach Hause schicken wollte und dann das Hefestück beinahe nicht gereicht hätte.

Wir überholten einen Handwagen. Das Rumpeln hallte durch die Straßen. Das waren Fritzsches die ihren Stollenteig in Decken eingepackt in einer Sitzbadewanne spazieren fuhren. Sie misstrauten dem Bäcker, aber meine Mutter war sicher, selbst der stärkste Mann konnte keine Knetmaschine ersetzen und wenn sie diese halbe Portion von Mann sah, dann wahr klar, dass die Stolle höchstens vier Zentimeter hoch werden würde. Ganz abgesehen von der Sitzbadewanne, so liederlich wie die Fritsche ihre Wäsche aufhing, ein einziges Gebammel, würde es meine Mutter nicht wundern, wenn die Stollen am Ende nach Rheumabad schmeckte, und wenn es darauf ankam, hatten sich sie gestern noch die Füße in der Wanne gewaschen. Wir grüßten nur kurz, überholten auf den letzten Metern auch noch Krausens. Ich kannte den Weg zur Backstube, die dunkle Toreinfahrt, in der sich die Aluminiumkisten für die Brötchen stapelten, den Hinterhof mit den hervorstehenden Katzenkopfsteinen. Oft ging ich nach der Schule mit meiner Freundin Angelika hierher, um Kuchenränder zu holen. Wir warfen auf dem Hof eine Münze, um zu bestimmen, wer hineingehen und fragen musste. Kopf oder Zahl. Wir fürchteten uns ein wenig vor dem Bäcker, der uns manchmal mit einer mürrischen Handbewegung davonjagte, wenn er sich bei seiner Arbeit gestört fühlte, aber manchmal auch die Ränder so großzügig abschnitt, dass die Streifen fast so breit, wie ein Stück Kuchen waren.

Das Licht aus der Backstube fiel durch die Scheibe in einem breiten Streifen auf den Hof, ein warmes gelbes Licht, das Geborgenheit versprach. Ich freute mich auf die Wärme, doch als wir eintraten, nahm mir die Hitze fast den Atmen. Der Raum war erfüllt von einem Brummen, Sirren, Stampfen dazu kam das rhythmische Klatschen, mit dem der Bäcker den Teig auf ein Holzbrett fallen ließ. Wir zwängten uns zwischen den Maschinen hindurch, im Licht der Glühbirne, die von der Decke hing, sah ich den Mehlstaub tanzen, und noch bevor meine Mutter rufen konnte: Lehn dich nicht an! war mein dunkelblauer Anorak auf beiden Seiten mit Mehl beschmiert. Der Bäcker hatte seine Arbeit beendet und lief trotz seines dicken Bauches ohne anzustoßen mit einem langen Brett auf dem Brote lagen durch die schmalen Gänge. Er öffnete die Klappe des Backofens, ich sah das lodernde Feuer und stellte mir vor, wie der Bäcker die Hexe in den Ofen schieben würde, „nun soll sie braten im Ofen braun wie Brot“. Der Bäcker stocherte mit einem Haken in der Glut. Auf seiner Stirn perlte Schweiß und grub kleine Rinnen in den Mehlstaub, der auf seinem Gesicht lag. Alles an ihm schimmerte weiß, die Haare, die unter dem Käppi hervorguckten, die Augenbrauen, selbst die Wimpern über den hervorquellenden Augen. Mit seinen Augen und seinem breiten Mund erinnerte mich der Bäcker an einen Frosch, die Frauen allerdings, einschließlich meiner Mutter, lächelten ihn an, als wäre er schon als Prinz von der Wand gefallen und sagten „Herr Bäcker“ zu ihm. Aber der Bäcker übersah das Lächeln, blieb streng und ließ die Frauen in einer Reihe antreten. Er nahm eine Liste und prüfte die Namen. Es war wie bei mir in der Turnhalle: wir begrüßen uns mit einem dreifachen Sport frei! Doch der Bäcker verlangte keine Standwaage oder einen Felgaufschwung sondern fragte nach Mengenangaben: Kupinke: sieben Dreipfünder, fünf Zweipfünder. Die Frauen sagten „ja Herr Bäcker“ und „danke Herr Bäcker“ und nahmen jede gehorsam eine Kiste in Empfang, in die sie alle Zutaten packen sollten. Es folgten Minuten der Wahrheit, jetzt würde sich zeigen, wer selbst in der Weihnachtszeit geizig war. Die Kanzok hatte nur ein Pfund Schmelzbutter auf zehn Pfund Mehl, das würde stieben wie in der Sahara, kein Wunder, dass der Mann Asthma hatte. Und die unbelehrbare Frau Zilonka hatte die Rosinen wieder in Rum eingeweicht, als ob nasse Rosinen Fettigkeit ersetzen könnten, das blieb doch alles im Ofen. Bei Fritschens waren sich alle einig, die ließen ihre Sitzbadewanne zugedeckt, damit niemand sehen konnte, dass der Teig nicht gegangen war. Am Ende wäre es besser, sie würden Printen daraus backen. Und wie jedes Jahr begann Frau Kiebranz darüber zu lamentieren, dass der Bäcker ihr verweigerte das eigene Mehl zu nehmen. Dreifach gesiebt Herr Bäcker, dreifach! Doch der Bäcker war der Bestimmer auf dem Platz und wenn er sagte Elfmeter für die Mannschaft mit den roten Trikots, dann war es auch so. Also ein Hefestück für alle. Er holte einen großen Block Hefe. Die glatten Seiten schimmerten matt wie Perlmut. Wenn meine Mutter mich in den Bäckerladen, „fürn Groschen Hefe“ kaufen schickte, dann holte die Verkäuferin das großes in Ölpapier eingeschlagenes Stück aus der Backstube und schnitt einen kleinen Würfel für mich ab. Manchmal zerbrach die Hefe beim Scheiden und ich pulte auf dem Heimweg winzige Hefesplitter aus dem Papier und ließ sie auf meiner Zunge zergehen. Ich genoss den leicht säuerlichen Geschmack, nahm noch ein Stück und noch eines. Und während mir zu Hause die Säure immer wieder aufstieß, hörte ich meine Mutter fluchen, dass sie jetzt schon bei der Hefe bescheißen würden.

Ich stand auf einer Alukiste und sah zu, wie sich der Knetlöffel in den Teig fraß. Der Bäcker schüttete aus einem Jutesack Mehl nach und der Staub brachte mich zum Husten, ich sah den vorwurfsvollen Blick meiner Mutter: Hand vorm Mund! womöglich hätte ich noch auf den Teig gespuckt. Sie zog mich von der Kiste. Gab es eigentlich schon eine Geschichte von dem Kind, dass sich zu weit über den Bäckereibottich gebeugt hatte?

Während das Hefestück ging, war Zeit zum Rauchen. Die Zilonka, die wieder einmal als einzigste Frau keine Kittelschürze trug, bot dem Bäcker eine Zigarette an. Und die anderen Frauen gingen, obwohl sie nicht rauchten, trotz der Kälte mit auf den Hof. Man konnte doch den Bäcker mit der Zilonka nicht allein lassen. Wie die den Bäcker ansah, davon wurde die Stolle auch nicht besser, Zilonkas waren doch Vertriebene, was verstanden die schon vom Stollenbacken. Wahrscheinlich hatte sie ihre Rosinen nicht in Rum sondern in Wodka eingeweicht, das der Pole trank, das wusste doch jeder. Wenn es darauf ankam würde sie den Bäcker so verwirren, dass er die Zutaten verwechselte.

Mit Argusaugen wachten die Frauen über die Teigherstellung. Hatte der Bäcker jetzt die Rosinen im Mehl gewälzt oder nicht? Am Ende wurde sich womöglich alles nach dem Backen am Boden absetzten. Jetzt hatten auch die Frauen Schweißperlen auf der Stirn und die Zilonka schon den dritten Knopf ihrer Bluse geöffnet. Nach einer Stunde war alles geschafft, die fertigen Stollen lagen auf einem Brett. Jetzt kam ein wesentlicher Teil des Stollenbackens, die Kennzeichnung. Es war ein amtlicher Vorgang, so wie der Stempel in eine Geburtsurkunde. Die Frauen steckten ihre Stollenmarken in den weichen Teig. Aber auch hierbei gab es Unterschiede, ich hatte nicht wie die anderen Kinder Pappstreifen aus der Rückseite meines Zeichenblocks schneiden müssen. Für derartigen Dilettantismus hatte meine Mutter nur einen abfälligen Blick übrig. Wir hatten Stollenmarken aus Metall, mit den ausgestanzten Initialen meiner Urgroßmutter. Auch diese Stollenmarken lagen mit in unserer schwarzen Kassette, und ich überlegte, ob Frau Zilonka, die sich vom Bäcker aus dem Deckel eines Tortenkartons Pappstreifen schneiden ließ, ihre Stollenmarken auf der Flucht verloren hatte. Doch es genügte nicht, seinen Namen einfach auf einen Pappstreifen zu schreiben, meine Mutter erinnerte nur an das Drama, als Frau Wenzel aus dem Erdgeschoss und Frau Schubert aus der Dritten ihre Stollen nach dem Backen nicht mehr auseinanderhalten konnten, weil im Ofen die Papierenden mit dem Namen weggebrannt waren. Eine geplante Intrige, da war sich Frau Schubert sicher, das hatte die Wenzel nur getan, weil sie wusste, dass Schuberts sämtliche Backzutaten aus dem Westen bekamen. Nie würde sie auch nur ein Stück Wenzelsche Stolle anrühren, da könnte sie doch gleich Konsumstolle kaufen. Nach einem heftigen Streit bei dem zwei Stollen zu Bruch gingen, was zusätzlich jahrelanges Pech bedeutete, und erst nachdem der Bäcker gedroht hatte, die Polizei zu holen, mussten sie schließlich die Stollen doch untereinander aufteilen. Und die Schubert erzählte noch Monate danach im Haus, dass es das schrecklichste Weihnachten ihres Lebens gewesen wäre, und Frau Wenzel verlor jedes Mal, wenn Frau Schubert große Hausordnung hatte, wie zufällig Asche aus ihrem Mülleimer. Uns konnte das nicht passieren, unsere Stollenmarken waren unverwechselbar, meine Mutter ging auf Nummer sicher, es hatte schon geringere Anlässe für den Ausbruch von Kriegen gegeben. Am liebsten hätte meine Mutter vor dem Backofen Wache gestanden, aber der Bäcker scheuchte alle Frauen wie eine Schar Hühner vor die Tür, schließlich sei es eine Back- und keine Wärmestube. Aber wenigsten einen kleinen Teil unserer Stolle konnten wir schon mit nach Hause nehmen, gut eingeschlagen in ein Tuch trug meine Mutter den Teigrest für den Kartoffelkuchen. Die Pellkartoffel hatte meine Mutter bereits am Vortag gekocht. Wir saßen am Küchentisch, schälten die Kartoffeln und meine Mutter erzählte Schauergeschichten von verbrannten und zerbrochenen Stollen, von eingebackenen Mäusen und von Stollen die so schliff waren, dass der Teig beim Essen noch an den Zähnen hängen blieb. Pünktlich Nachmittags um fünf begann der zweite Teil. Jetzt musste auch mein Vater an den Kampfhandlungen teilnehmen. Bewaffnet mit einem zwei Meter langen Brett, das eigens zu diesem Anlass in unserem Haushalt gehalten wurde, zogen wir bei Einbruch der Dämmerung los. Und natürlich hätten wir UNSERE Stollen auch ohne Stollenzeichen erkannt, wunderschön hoch, hellbraun und nicht zu sehr gerissen. Voller Häme betrachte meine Mutter das wie erwartet breitgelaufene Etwas aus Fritschens Sitzbadewannenproduktion. Jetzt mussten wir unsere Beute nur noch sicher nach Hause bringen. Den ganzen Heimweg lang war meine Mutter in Sorge, mein Vater könnte irgendwo anstoßen oder stolpern. Vorsicht Bordsteinkante. Tagelang vor dem Stollenbacktag verfolgte meine Mutter den Wetterbericht, war eine Regenplane notwendig oder genügten Geschirrtücher zum Abdecken und einmal als es unerwartet gefroren hatte, war meine Mutter mit einem Eimer Streusand, vor meinem Vater hergegangen. Die letzte Herausforderung war das Treppenhaus, meine Mutter machte einen Lärm, als müssten wir einen Blüthner Flügel transportieren und manchmal dachte ich, dass sie froh sein konnte, dass mein Vater das Brett nicht einfach fallen ließ, wie es Herr Krause einmal getan hatte, als ihm das Geschrei zuviel wurde. Doch endlich lagen die Stollen friedlich in unserer Küche und warteten darauf, mit Butter bestrichen zu werden. Dafür gab es extra einen Pinsel, dessen Borsten selbst noch im Sommer leicht ranzig rochen. Liebvoll bestrich meine Mutter den hellbraunen Teig, betupfte sorgfältig auch den kleinsten Krater, um es dann kräftig darauf schneien zulassen, ein Puderzuckersturm, der sich erst legte, als auch die letzte Stolle restlos weiß war. Jetzt trennten uns nur noch wenige Meter vom Ziel, allerdings auf einem Parcours, der es in sich hatte. Das Stollenbrett musste von der Küche ins Schlafzimmer transportiert werden. Hinderlich dabei war die geringe Breite des Korridors, die ein direktes Wenden unmöglich machte. Meine Eltern hatten zu diesem Zweck ein Zickzack-Verfahren entwickelt, was hieß, dass mein Vater mit dem Brett soweit ins gegenüberliegende Wohnzimmer hineinlief, bis meine Mutter die Küche verlassen und mit ihrem Brettende ins Bad schwenken konnte, Kinderzimmer, Abstellkammer, Schlafzimmer. Meine Eltern waren bereit jeden olympischen Rekord zu brechen und ich hatte Mühe bei dieser Geschwindigkeit die Türen rechtzeitig zu öffnen und fast wäre mein Vater mit dem Jackenärmel an der Badklinke hängen geblieben. Aber noch war es nicht vorüber, jetzt kam der bemerkenswerteste Teil der Darbietung: ein Mann und eine Frau steigen gleichzeitig auf einen Stuhl und heben dabei ein langes Brett auf einen Schrank. Eins, zwei, drei! Bei den ersten Versuchen wurde nur gezählt. Dann standen sie abwechselnd auf den Stühlen. Kannst du nicht zählen! Und irgendwann schafften sie es doch und schnellten gleichzeitig nach oben. Nur auf die Außenkanten treten! schrie meine Mutter noch, aber da war mein Vater schon mit dem Stuhlkissen eingebrochen. Wie ein Held auf einem untergehenden Schiff, hielt er das Brett im Fallen hoch über seinen Kopf. Alles in Ordnung! rief meine Mutter glücklich und mein Vater verzog das Gesicht, weil er sich das Bein verstaucht hatte. Aber auf solche Kleinigkeiten konnte meine Mutter keine Rücksicht nehmen und nach dem siebenundfünfzigsten Versuch landeten die Stollen doch noch unversehrt auf den Schrank. Solange sie dort lagen, herrschte im Schlafzimmer absolutes Heizverbot und meine Mutter nahm sogar in Kauf, dass Blätter der Alpenveilchen an den Scheiben anfroren. Die Stolle liebte es nun einmal kühl. Ich überlegte, ob das Schnarrchen meines Vaters in irgendeiner Weise Einfluss auf den Geschmack der Stolle haben könnte. Verdrängte aber diesen Gedanken in Anbetracht der vielen Rosinen im Teig.

Jetzt kamen wir zum gemütlichen Teil. Meine Mutter bestrich den noch warmen Kartoffelkuchen dick mit Butter und bestreute ihn mit Zucker und Zimt. Vorsorglich hatte sie Kuhlen in den Teig gedrückt, in denen sich kleine Butterseen bildeten, die den Zucker gierig aufsaugten und zu einer dunkel glänzenden Kruste werden ließen. Wir saßen bei Kerzenschein am Küchentisch, tranken Tee und aßen trotz dass es schon Abendbrotszeit war den noch warmen Kuchen, dessen Teig weich wie Watte war. Und meine Mutter sagte: War doch gar nicht so aufregend. Ich ließ die Zuckerkruste auf meiner Zunge zergehen, und auch wenn es bis zum Anschneiden der Stolle noch vier lange Wochen waren, wusste ich jetzt genau: auch in diesem Jahr würde es wieder Weihnachten werden.